Ostthüringer Zeitung (Schleiz)
Zwischenfall im Freudenhaus
„Sagen, was ist“, den Satz, mit dem „Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein 1961 in einem Editorial des Nachrichtenmagazins die Aufgabe von Journalisten definierte, wirkt beim Betrachten heutiger Nachrichtenportale wie ein verstaubtes Relikt aus dem vorigen Jahrhundert. Zwar berichten wir noch immer Wahres und Wahrhaftiges, in Zeiten, in denen selbst der kleinste Lokaljournalist im Wettbewerb um Aufmerksamkeit mit der ganzen schönen (Netz-)Welt steht, gelten aber ein paar besondere Spielregeln.
Um das Interesse des geneigten Users zu erwecken, muss die Überschrift starke Signalworte und aktive Verben enthalten, sollte neugierig machen, aber nicht zu viel verraten, damit der Mausklick auf den Inhalt als neue Währung des Erfolgs quasi unausweichlich ist.
Von kalten Duschen und reichlich Überraschungen
Deshalb wimmelt es selbst auf den seriösesten Internetnachrichtenseiten vor „heiklen Personalien“, „unerwarteten Wendungen“oder „wichtigen Änderungen“. Es gibt „kalte Duschen“, „bekannte Fakten“und jeden Tag reichlich „Überraschungen“. Was sich dahinter verbirgt, erfährt man später, vielleicht, im besten Fall.
Weil sich der abstrakte Casus am konkreten Beispiel besser erklären lässt: Als Rudolstadts Bürgermeister Jörg Reichl am vorigen Wochenende in Hamburg weilte, um als Gast der Weltpremiere des höchsten, transportablen Flugkarussells zwischen Herne und BietigheimBissingen beizuwohnen, lud er seine beiden Begleiter zum Essen ins Restaurant „Freudenhaus“, ganz in der Nähe der Reeperbahn ein, wo es zum Beispiel ein Freudenferkel „Olivia Jones” für 27,50 Euro gibt.
Die ideale Überschrift des Beitrags hätte heißen müssen: Zwischenfall im Freudenhaus: Was Rudolstadts Bürgermeister in St. Pauli erlebte. Ich wette, Sie hätten geklickt.
Fröhliche Ostern!