Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
Boateng kehrt als Boss nach Berlin zurück
Beim Testspiel gegen Brasilien trägt der Bayern-Spieler in seiner Heimatstadt die Kapitänsbinde und fällt mit kritischen Worten auf
Berlin. Joachim Löw hat viele gute Eigenschaften. Eine ist zum Beispiel, dass der Bundestrainer bisweilen demonstrativ unaufgeregt reagiert, wenn er öffentlich zu Dingen befragt wird, zu denen er nicht sofort Antworten parat hat. Am Montagmittag wurde dieser Herr Löw gefragt, wer denn eigentlich die deutsche Nationalmannschaft am Dienstagabend (20.45 Uhr / ZDF live) in Berlin als Kapitän aufs Feld führen wird, wenn die Testbegegnung gegen Brasilien ansteht.
Löw versuchte mitnichten zu kaschieren, dass er darüber nun wirklich noch nicht nachgedacht hatte. Er überlegte also, überlegte lang. Es entstanden Sekunden der Stille, die Löw gelassen aushielt. Offenbar ging der 58-Jährige die Kandidaten durch. Manuel Neuer? Verletzt. Sami Khedira? Angeschlagen, Einsatz fraglich. Thomas Müller? Bereits abgereist. Wenn alles kommt, wie erwartet, „dann wird Jerome Boateng Kapitän sein“, sagte Löw also.
Die Frage nach dem Kapitän mag für den Bundestrainer noch nicht von existenzieller Bedeutung gewesen sein, für Boateng bedeutet die Antwort aber, dass sein Auftritt in der alten Heimat geadelt werden könnte. Rückkehr als Chef, als Anführer. Die Armbinde als sichtbares Signal einer Reise, die unweit begann. Geboren in Berlin, in Charlottenburg groß geworden. Dort ging er zur Schule, kämpfte sich auf Hartplätzen durch, lernte fürs Leben. Jetzt Kapitän. Zeichen seiner Unangreifbarkeit unter Löw. „Als kleines Kind habe ich davon geträumt, mal im Olympiastadion gegen Brasilien zu spielen. Es freut mich, dass ich nun dieses Spiel in meiner Heimatstadt absolvieren darf“, sagt der Verteidiger von Bayern München, dessen Status mittlerweile derart unzweifelhaft ist, dass er sich erlauben kann, öffentlich Kritik auch an den Kollegen zu äußern.
Der fußballerisch hochwertige Test gegen Spanien (1:1) am Freitag hatte ihm nicht zugesagt und auch drei Tage später konnte er keinen allzu großen Gefallen daran finden: zu viele Fehler im Passspiel, zu wenig Zielstrebigkeit vorne, zu wenig Sicherheit hinten. „Wir wollen im Sommer erfolgreich sein“, mahnt er mit Blick auf die WM in Russland, in die Deutschland als Titelverteidiger starten wird. „Ich finde es besser, Nachlässigkeiten klar anzusprechen als sie verstreichen zu lassen und uns blöd anzugucken, wenn die WM vorzeitig vorbei ist.“
Dieser Wesenszug dürfte ein Grund für Löws Wertschätzung dem 29-Jährigen gegenüber sein. „Für einen Trainer ist es gut, wenn Spieler auch nach einem guten Spiel selbstkritisch sind“, sagte Löw: „Deutschland kann, muss und wird sich steigern.“
Für die Brasilianer muss das schon wieder wie eine Drohung klingen. Noch immer leidet das Land still, aber schmerzhaft an dem Trauma des Halbfinals 2014, als der WM-Gastgeber gegen Deutschland eine der denkwürdigsten Niederlagen der internationalen Fußball-Geschichte erlebte: 1:7. Die Begegnung in Berlin ist das erste Wiedersehen seit jenem Tag damals.