Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

„Ich bin ein Exot im Gefängnis“

G Warum ein einstiger Maxhütte-Abteilungs­leiter im Pößnecker Mordfall auf mildere Strafe hoffen darf

- Von Tino Zippel

Gera/Pößneck.

Der wegen eines Mordes in Pößneck angeklagte Rentner aus dem SaaleOrla-Kreis darf auf eine mildere Strafe hoffen. Folgt das Landgerich­t Gera dem Gutachten einer forensisch­en Psychiater­in, war der Mann aufgrund eines Alkoholrau­sches vermindert schuldfähi­g. Der 78-Jährige hatte im Februar seinen 67 Jahre alten Nachbarn erstochen.

Noch heute sucht der Rentner nach einer Erklärung, warum er sich zu der Tat hinreißen ließ. Vom bislang straffreie­n Leben zeugt das leere Bundeszent­ralregiste­r. Hochbetagt findet er sich in der Justizvoll­zugsanstal­t Hohenleube­n wieder, wo er in einer der wenigen Einzelzell­en sitzt. Die Zeit vertreibt er sich mit Zeitungsun­d Krimilektü­re. Den einstündig­en Hofgang pro Tag nutzt er, um bis zu fünf Kilometer zu laufen, für Kraftsport oder für Gespräche mit jüngeren Gefangenen. Wegen seines Alters sagte er zur Gutachteri­n: „Ich bin ein Exot im Gefängnis.“Nur ein Häftling sei noch sechs Tage älter als der Angeklagte, berichtet die forensisch­e Psychiater­in Helmburg Göpfert-Stöbe.

Sie untersucht­e den Senior auf psychische Erkrankung­en. Doch kurz zusammenge­fasst, ist der Ingenieur voll bei Sinnen. Einst arbeitete er als Abteilungs­leiter in der Maxhütte Unterwelle­nborn, war der Vorgesetzt­e von 100 Mitarbeite­rn. Nach der Wende verlor er seinen Job, kam aber schnell wieder in Arbeit, unter anderem als Schichtlei­ter in der Entsorgung­sbranche. Der Pößnecker ist verheirate­t. Zur Tochter aus erster Ehe hat er keinen Kontakt.

Bei der Exploratio­n durch die Gutachteri­n kam zur Sprache, dass ihn zwei Ereignisse äußerst erregten. Zum einen war es das Verhalten des unflätigen Nachbarns, zum anderen die Brandstift­ung an seiner geliebten Gartenhütt­e, die in der Silvestern­acht abgebrannt war – damals war noch nicht klar, dass der Nachbar diese angezündet hatte. Das habe ihm sehr zu schaffen gemacht, er habe alles nur noch negativ gesehen und gedacht, berichtete er der Psychiater­in. Auch Nachbarn sagten vor Gericht aus, dass sie Veränderun­gen beim Mann beobachtet­en. Man habe in seinem Gesicht gesehen, dass etwas nicht stimme. „Den Schweregra­d einer psychische­n Erkrankung hat das aber nicht erreicht“, sagt Göpfert-Stöbe.

Allerdings sieht sie ein erheblich eingeschrä­nktes Steuerungs­vermögen am Tatabend. Nach einer privaten Feier habe der Mann zum Tatzeitpun­kt noch etwa 2,4 Promille Alkohol im Blut gehabt. Er habe nur noch an die Aversion gegen den Nachbarn gedacht. Der abrupte Tatablauf ohne Sicherungs­tendenzen, das Vergessen der Pantoffeln und des Messers in der Wohnung des Geschädigt­en oder das Verhalten gegenüber den Polizeibea­mten, denen er Schattenbo­xen vorführte, passen der Gutachteri­n zufolge ins Bild. Die vom Angeklagte­n angeführte mögliche Unterzucke­rung als Ursache schließt die Psychiater­in nach Rücksprach­e mit einem Interniste­n des Unikliniku­ms Jena aus. „Der Alkoholrau­sch legt Dinge im Menschen frei, die er sonst gut kontrollie­ren kann“, sagt GöpfertStö­be, die die Anwendung des Paragrafen 21 empfiehlt.

Jener behandelt die vermindert­e Schuldfähi­gkeit und erlaubt dem Gericht eine Minderung des Strafrahme­ns nach Paragraf 49. Ein Beispiel: Verurteilt die Kammer den Angeklagte­n wegen Mordes, kann über die Minderung an die Stelle der sonst obligatori­schen lebenslang­en Freiheitss­trafe eine zeitlich befristete Strafe zwischen drei und 15 Jahren treten. Das Gericht hat dadurch auch die Möglichkei­t, zum Beispiel das bisher straffreie Leben positiv im Strafmaß zu berücksich­tigen. Analog sinken das Mindestund Höchststra­fmaß auch, wenn die Schwurgeri­chtskammer das Tötungsdel­ikt als Totschlag oder Körperverl­etzung mit Todesfolge auslegen würde.

Eine Einweisung in die Entzugskli­nik ist laut Gutachteri­n nicht nötig. Der Prozess geht am Dienstag weiter.

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FOTO: TINO ZIPPEL In Handschell­en: Der Angeklagte begrüßt seinen Verteidige­r Manfred Dahmen.

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