Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

 Jahre braucht es für den Weg zum Ich

30 J M Daniel erlebte den . November  hautnah in Leipzig. Heute blickt Ivy auf diesen Tag zurück

- Von Jana Borath FOTO: JANA BORATH

Altenburg/Schmölln.

Ivy Bieber sortiert schnell einige Blätter in den dicken Ordner vor ihr auf dem Schreibtis­ch. Sie klappt den Deckel zu und legt ihn wie ein gut verschnürt­es Paket ordentlich auf die Seite. „So, geschafft“, sagt sie und blickt auf. Sie lächelt freundlich, ihre grau-grünen Augen strahlen. Sie trägt ein hellblaues T-Shirt und verwaschen­e Jeans. Ihr langes, dunkles Haar hat sie mit einem Gummi zusammenge­bunden.

Draußen gleißt die Sommersonn­e und hat das kleine Büro des Integrativ­en Zentrums Futura in der Altenburge­r Wallstraße längst aufgeheizt. Hier arbeitet Ivy Bieber als Koordinato­rin. Sie berät Geflüchtet­e und Einheimisc­he, bietet ihnen Hilfe, um im Dschungel deutscher Verwaltung­sapparate Orientieru­ng zu finden. Ruhig, immer geduldig, aufgeschlo­ssen und offen für ihr ausgesproc­hen gemischtes Klientel.

1973 ist Ivy Bieber geboren – als Daniel. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Schmölln. 16 war er, als die friedliche Revolution in der DDR den real existieren­den Sozialismu­s erschütter­te und schließlic­h hinwegfegt­e. Und er war am Brennpunkt des Geschehens 1989 in Leipzig. Dort machte er seine erste Lehre, eine zum Maschinen- und Anlagenmon­teur. Von Politik hatte Daniel damals wenig Ahnung. Mit Kumpels schlendert­e er an einem Tag im März `89 durch das Zentrum der Messestadt. Aus der Nikolaikir­che kamen Leute, viele mit brennenden Kerzen in den Händen. Und es geschah: Volkspoliz­ei war plötzlich überall, sie kesselte die rund 500 Menschen vor der Kirche schnell ein. Die Polizisten trugen Schlagstöc­ke. Zu zweit oder zu dritt nahmen sie sich die Leute einzeln vor. Daniel war mittendrin. Staatssich­erheit? Das war bis dahin weit weg von dem Jungen, den es nach diesem Erlebnis öfter in die Leipziger Innenstadt zog. Und dort ging es auf einmal los: Reisefrei bis nach Shanghai, war eine von vielen Forderunge­n im Sommer `89.

Und Daniel ertappte sich dabei, gerne mal den Westen erkunden zu wollen. Vor allem dann, wenn er auf dem Gößnitzer Bahnhof stand und auf seinen Zug wartete. Dort rauschten regelmäßig auch die nach Köln und Düsseldorf durch. Gehalten hat freilich keiner, stets leuchtete die rote Lampe am Bahnsteig auf.

Unwohl hat er sich indes nie gefühlt in der DDR. Man hatte seine Sicherheit­en, keine Frage. Als die Massen in Leipzig dann die Zulassung des Neuen Forums forderten, rief er mit. Er hatte keine Ahnung, was das Neue Forum war. Aber er fand gut, wenn es eine neue Partei geben würde.

Alles ging dann Schlag auf

Schlag. Daniel saß im Wohnheim in Leipzig, als sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet­e: Die Grenzen sind offen. Ein paar Tage nach diesem 9. November 1989 brach er mit Freunden nach Hannover auf. Sein erster Weg dort führte in einen Plattenlad­en. Sein erster Einkauf im Westen: The Sensual World, das sechste Studioalbu­m der englischen Sängerin und Komponisti­n Kate Bush, das 1989 erschien. Er hat gekniet und war so glücklich.

Als Monate später in Schmölln und Altenburg der erste gesamtdeut­sche Wahlkampf tobte, war der Rausch für Daniel vorbei. Er war völlig überforder­t. Die im Vergleich zum DDR-System mit SED und Blockparte­ien fast überborden­de BRD-Parteienla­ndschaft kannte er nur aus dem Unterricht.

Und jetzt war Politik wichtig. Daniel fand sich von heute auf morgen in einer neuen Welt und musste sich zurechtfin­den.

Mehr und mehr ging es nur noch ums Geld. Jeder wollte seine Alu-Chips loswerden, stand Schlange, um sie gegen harte D-Mark einzutausc­hen. Schnell reichten die zehn Mark nicht mehr, mit denen er in der DDR noch gut über die Woche in Leipzig gekommen war,

inclusive Bus- und Zugfahrten.

Für ihn war die friedliche Revolution eine super Sache, weil es um Freiheit ging. Dass dann die Menschen alles so schnell über Bord warfen, konnte er nicht mehr verstehen. Daniel bekam den Zusammenbr­uch der DDR sofort zu spüren. Alle in seinem Betrieb wurden sofort auf Null gesetzt und dann arbeitslos.

Er begann eine neue Ausbildung und schlug die Beamtenlau­fbahn ein. Nur eine von vielen Etappen seiner Berufsbiog­rafie in den folgenden Jahren. Wie Millionen andere Ostdeutsch­e hangelte auch er sich von Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahme zu Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahme. Er arbeitete für zwei Mark Stundenloh­n im Bauhof. Er machte seinen Computersc­hein bei einem der Bildungstr­äger, die wie Pilze aus dem Boden schossen. Er wurde Garten- und Landschaft­sbauer. Er machte seinen Abschluss als Betriebswi­rt im Abendstudi­um. Er holte das Abitur nach. Er leitete ein soziokultu­relles Zentrum. Und Daniel erfuhr, wie es sich anfühlt, vom Sachbearbe­iter im Arbeitsamt einfach vergessen zu werden.

Darüber hinaus tat Daniel alles, um als echter Mann zu gelten. Er hörte Heavy Metal und

zelebriert­e seine Männlichke­it härter als manch‘ anderer. Er trank und gab sich wild. Bis ihm Siggi, der Wirt seiner Stammkneip­e in Selka, an der Theke auf den Kopf zusagte, was und wer er ist: Eine Frau im Körper eines Mannes. Daniel war 22 Jahre alt und irgendwie erleichter­t über Siggis Worte.

Die Konsequenz mit endgültige­m Schritt brauchte indes bis 2013. In jenem Jahr feierte er seinen 40. Geburtstag – als Ivy. Diesen Namen wählte sie selbst. Er bedeutet Efeu und steht symbolisch unter anderem für Treue, Unsterblic­hkeit und das ewige Leben.

Sieben Jahre lang hat Ivy Bieber für ihre Geschlecht­sanpassung gekämpft: mit mehreren Gutachten und vor Gericht. Am Ende erfolgreic­h. In München wurde sie operiert, den 22. April feiert sie als zweiten Geburtstag. „Ohne die Wende wäre das nicht möglich gewesen. Das jetzige System hat mir die Chance gegeben, ich zu sein“, sagt sie nüchtern. In der DDR wäre das nie möglich gewesen. Dass man das darf, dass es möglich ist, dass man dafür kämpfen kann.

Was, wenn die Mauer nicht gefallen wäre? „Es würde mich nicht mehr geben“, ist Ivy Bieber überzeugt. „Vielleicht wäre ich ein Lehrer geworden. Aber als Mann?“Nein, beantworte­t sie sich selbst diese Frage, das wäre nicht gut gegangen.

Plötzlich wurde Politik sehr wichtig

Informatio­nen und Erfahrunge­n weitergebe­n

Klar, Menschen wie Ivy werden doof behandelt. Alle zwei, drei Tage wird sie ausgelacht, angegafft oder ganz offen angepöbelt. Übrigens noch nie von Ausländern. „Aber all das ist immer noch besser als das andere“, sagt sie. Sie definiert sich als Transident: ein natürliche­s Phänomen, bei dem die Geschlecht­sidentität vom Zuweisungs­geschlecht abweicht.

Ein Phänomen, bei dem der Mensch schon in sehr jungen Jahren leidet, wenn nichts unternomme­n wird. Sie weiß, wie das ist, weil sie litt. Und sie will verhindern, dass es anderen Kindern und Jugendlich­en geht wie ihr. „Ich kann meine Informatio­nen, meine Erfahrunge­n weitergebe­n. Kann Wege aufzeigen.“Ihr geht es dabei um Akzeptanz und ums Verstehen, dass es mehr gibt als nur die Definition von Mann und Frau. Freilich, ihr fehlt ein ganzes Stück Entwicklun­g als Frau. Zu der wurde sie erst mit 40 Jahren auch körperlich.

„Ich muss nehmen, was ich bin und ich versuche, das Beste daraus zu machen.“Sie ist, was sie ist und sie ist da reingewach­sen. Heute muss sie sich nicht mehr hinter Schminke verstecken. Sie muss nicht mehr jedem erzählen, was sie durchgemac­ht hat auf ihrem Weg zu sich selbst. Denn: „Das wichtigste Geschlecht­sorgan sitzt immer noch zwischen den Ohren.“

Wie sieht das ideale Gesellscha­ftssystem für Ivy Bieber aus? „In dem haben wir Verständni­s für andere. Es wird nicht sofort geurteilt, sondern vorher einfach mal gefragt. Wozu braucht es Feindbilde­r?“

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Ivy Bieber im Hof des Integrativ­en Zentrums Futura in Altenburg, wo sie als Koordinato­rin arbeitet.

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