Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
Was tun gegen Armut?
Diakonie-Präsident Ulrich Lilie im Gespräch
Erfurt. Als sozialer Dienst der evangelischen Kirche versteht sich die Diakonie als Anwältin der Schwachen, sie ist Trägerin zahlreicher sozialer Einrichtungen von Pflegeheimen bis zu Kitas. „Unerhört!“lautet der doppelsinnige Titel einer aktuellen Kampagne der Diakonie. Sie will Menschen Gehör verschaffen, die sich an den Rand gedrängt fühlen und einen offenen Diskurs über die Zukunft unserer Gesellschaft befördern. „Unerhört!“ist auch das Buch von Ulrich Lilie getitelt. Der 62-jährige Theologe ist seit 2014 Präsident der Diakonie Deutschland.
Herr Lilie, Sie sind mit Ihrem Buch gut unterwegs. Die Bestandsaufnahme über den Zustand der Gesellschaft darin klingt nicht gut. Was bereitet Ihnen so große Sorgen?
Deutschland wird mit großer Geschwindigkeit kulturell, ethnisch und religiös vielfältiger, die Vorstellungen vom guten Leben immer diverser. Deutschland wird digitaler, älter und sozial ungerechter. Das stellt uns vor die Frage, welches Land wir in zehn, 15 Jahren sein werden. Mir bereitet es Sorge, dass diese Frage weder in der Politik noch in der Gesellschaft breit diskutiert wird.
Was ist so bedenklich daran?
Dass sich diese Entwicklung in den konkreten Lebensverhältnissen unterschiedlich auswirkt. Es ist heute für eine Biografie entscheidend, ob jemand in Rostock, Erfurt oder in München aufwächst. Die Kommunen sind in Infrastruktur, Pflege oder Schulen völlig unterschiedlich ausgestattet, abhängig davon, ob Steuereinnahmen sprudeln oder nicht. Wir haben keine gleichwertigen Lebensverhältnisse. Darin liegt viel Sprengstoff.
Das Gefühl, ungehört und abgehängt zu sein, wird gern als Erklärung für die Wahlerfolge der AD im Osten herangezogen. Erleben Sie das als spezifisch ostdeutsches Thema?
Es gibt natürlich Facetten die mit ostdeutscher Geschichte zu tun haben. Die kritischen Aspekte der Wiedervereinigung wurden viel zu wenig öffentlich diskutiert. Gerade erleben wir eine Debatte darüber, welche Betriebe damals abgewickelt wurden die überlebensfähig gewesen wären, und welche Rolle westdeutsche Konzerne dabei spielten. Die Wendegeneration meldet sich zu Wort und sagt, sie ist damals zu wenig gehört worden, zu wenig beachtet in dem, was sie in die Einheit einzubringen hatte. Ich erlebe ein enormes Bedürfnis, darüber zu reden. Menschen reagieren sehr sensibel darauf, ob ihnen zugehört wird.
Diese Tugend ist der Politik abhanden gekommen?
Ich finde ja. Kooperation ist das Zauberwort des 21. Jahrhunderts, das müssen wir neu lernen. Der Staat kann nicht alles allein machen, sondern muss hinschauen, was Bürgerschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen einbringen können, und ihnen das auch ermöglichen.
Zuhören und reden ist wichtig, aber die Menschen erwarten von der Politik Taten. Die Grundrente zum Beispiel wird inzwischen seit einer gefühlten Ewigkeit diskutiert.
Ich hoffe sehr, dass die große Koalition jetzt schnell einen Konsens findet. Wir brauchen unbedingt ein Zeichen, dass Menschen die für diesen Staat etwas geleistet haben, den Anspruch auf eine finanzielle Mindestausstattung im Alter haben.
Die Debatten entzünden sich an der Bedürftigkeitsprüfung, Welcher Kompromiss wäre aus Ihrer Sicht vertretbar?
Das, was ich als Bürger jedes Jahr bei meiner Steurerklärung offen legen muss, halte ich auch für die Grundrente für zumutbar. Die Diskussion darüber ist aufgebauscht, man kann gute Lösungen finden.
Gerade erst wurde das Kindergeld erhöht, was ausgerechnet bei Familien, die es am Nötigsten haben, gar nicht ankommt, weil es auf Hartz-IV-Leistungen angerechnet wird. Wie kann diese Schieflage beseitigt werden?
Wir fordern seit Jahren eine Grundsicherung für Kinder, weil das Dickicht von sozialen Leistungen inzwischen fast so kompliziert ist wie das Steuerrecht, und fast genauso ungerecht. Es gibt Familien, die brauchen eine Kindergelderhöhung gar nicht, andere dringend. Kinder müssen unabhängig von ihrer Herkunft Chancengerechtigkeit erfahren.
Was ist für Sie Armut?
Wenn das Kind nicht an der Klassenfahrt teilnehmen kann. Wenn ein kaputter Kühlschrank eine Katastrophe ist. Wenn man nicht mobil ist, weil die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs zu teuer ist. Wenn keine Teilhabe mehr stattfindet. Um diese Dinge müssen wir uns in diesem reichen Land dringend kümmern, zumal die Schere zwischen arm und reich weiter auseinander geht.
Die SPD hat das Thema Vermögenssteuer wieder auf den Tisch gepackt. Es gibt Stimmen, die warnen vor einer Neiddebatte, die wir nicht brauchen. Was sagen Sie?
Neiddebatte ist ein polemisches Wort. Es muss besprechbar sein, dass Menschen die besonders viel haben, auch verpflichtet sind, in angemessenen Rahmen mit denen zu teilen, die fast nichts haben. Auch davon lebt dieser Staat und der soziale Frieden. Er ist im Übrigen auch eine Bedingung dafür, dass die Erfolgfreichen erfolgreich sein können. Wir sollten besser von sozialem Frieden als von Neiddebatte reden.
Die Vermögenssteuer wäre eine Frage von Gerechtigkeit und hätte Symbolcharakter?
Von Symbolcharakter würde ich nicht sprechen. Die meisten Menschen sagen, dass sie mit ihrem Leben zufrieden sind, aber unzufrieden mit den Prozessen der Verteilung im Land. Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass es gerecht zugeht, dass der Staat in angemessenem Rahmen für Ausgleich sorgt. Das ist kein Symbol.
Wir haben nicht nur ein Gerechtigkeitsproblem, sondern offensichtlich auch ein Einsamkeitsproblem. Laut einer Umfrage fühlt sich jeder zehnte Deutsche einsam. Was passiert mit uns?
Einsamkeit ist die Kehrseite dessen, was wir an unserem Lebensstil schätzen: Mobilität, Individualität und die Möglichkeit, unseren Lebensablauf flexibel zu gestalten. Es betrifft alle Lebenslagen, nicht umsonst boomen zum Beispiel Partnerbörsen. Der Bedarf nach analogem Kontakt ist enorm.
Brauchen wir dafür einen Einsamkeitsbeauftragen, wie es die SPD vorschlug?
Ich habe noch nie daran geglaubt, dass Beauftragte die Probleme der Welt lösen. Wir brauchen Orte, die Kontakte ermöglichen und wir brauchen mündige Bürger, die Verantwortung für andere übernehmen.
In Thüringen gibt es Forderungen nach der Aufnahme des Ehrenamtes in die Verfassung. Wie finden Sie das?
Ein sympathischer Gedanke, wenn er mit den richtigen Konzepten verbunden ist. Bei der Diakonie arbeiten rund 700.000 Menschen ehrenamtlich, das ist ein Schatz für die Zivilgesellschaft. Viele unserer Träger haben eigene Ehrenamtsagenturen, wo unter Dutzenden Bereichen ausgewählt werden kann, von der Telefonseelsorge bis zur Arbeit an der Tafel. Die Menschen wollen sich engagieren und bringen Fähigkeiten mit. Aufgabe des Staates ist es, die Strukturen zu stärken, damit diese Potenziale genutzt werden gönnen.
Mit Blick auf das Lebensende sehr alter Menschen haben Sie gesagt, dass der Ruf nach einem assistierten Suizid für viele zu einer echten Alternative werde, wenn wir das Pflegeproblem nicht lösen. Muss man drastisch sein, um gehört zu werden oder befürchten Sie das wirklich?
Ich habe das sehr ernst gemeint. Wir wissen, dass die palliative Versorgung von alten und kranken Menschen nicht ausreicht. Sie müssen in ihrer letzten Lebensphase zwei bis drei Krankenhausaufenthalte erleiden, die eigentlich vermeidbar sind. Da haben wir ein erhebliches Problem. Wir müssen in der Diskussion über Pflege nicht nur über die Attraktivität des Pflegeberufs reden, sondern auch über Ausstattung und Qualifikation der Menschen, die dort arbeiten.
Und auch über die Finanzierung von Pflege. In Thüringer Pflegeheimen müssen Bewohner zum Teil 500 Euro mehr zahlen. Korrekturen am System auf dem Rücken der Senioren?
Die Kommunen müssen die Differenz aufbringen, wenn die Rente für das Heim nicht ausreicht. In armen Kommunen betrifft das deutlich mehr Menschen, und ausgerechnet dort steigen diese Anteile. Das ist eine völlige Schieflage. Der Eigenanteil für Heimkosten muss künftig stabil bleiben und für den muss man sich versichern können. Es ist unbestritten, dass wir über die gesamte Tektonik der Finanzierung nachdenken müssen. Dieses dicke Brett muss die Politik bohren. Wir müssen über eine vernünftige Steuerteilfinanzierung reden.
Pflege, Rente, Menschen mit Behinderung, Kinderarmut: Unser Sozialsystem hat viele Baustellen. Genügen Korrekturen, oder brauchen wir eine grundhafte Neuaufstellung?
Es ist eine paradoxe Entwicklung: Wir haben Sozialgesetzbücher, die eine große Errungenschaft der sozialen Demokratie sind. Aber es ist fast unmöglich, die vielen Einzelthemen vernünftig zusammenzubringen. Aus dem Sozialstaat droht ein Bürokratiemonster zu werden. Unter diesem Aspekt müssen wir uns das gesamte Gebäude der sozialen Gesetzgebung neu ansehen.