Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Zeit der Aufbrüche

Der Tag des offenen Denkmals am 8. September steht im Zeichen des 100. Bauhaus-Jubiläums. In keiner anderen Thüringer Stadt hinterließ­en die Ideen vom neuen Bauen so viele sichtbare Spuren wie in Gera

- Von Elena Rauch

Fensterbän­der, die Wände fast in Glas auflösen. Hohe Pfeiler, die das Gebäude scheinbar in die Höhe tragen. Klar und funktional ist die Fassade aus Glas und Backstein und verbreitet trotzdem nicht die Tristesse, die Industrieb­auten oft eigen ist. Zeitgenöss­isch mutet sie an, wurde aber vor fast 100 Jahren erbaut: Die einstige Woll-und Seidenwebe­rei Schulenbur­g & Gessler in Gera.

1925 beauftragt­e der Unternehme­r Paul Schulenbur­g den Architekte­n und Meistersch­üler Henry van de Veldes, Thilo Schoder, den alten Fabrikbau aufzustock­en.

Man betritt das Treppenhau­s, die hohen Fenster lassen die Fliesenwan­d schimmern. Im ersten Stock der Besucherra­um. Eine mit Stoff bespannte Sitzecke, in der Garderobe verschiebb­are Kleiderhak­en, Einbauschr­änke. Genauso wie damals, sogar die Leuchte, die über dem Tisch hängt, ist ein Original. Hier haben sie ihre Hüte und Schirme abgelegt, sich eine Zigarre angezündet und auf ihren Termin gewartet, die Herren Geschäftsp­artner und Vertreter. Das Wartezimme­r. Das Thilo-Schoder-Zimmer.

Überrascht? Stadtführe­rin Karin Schumann folgt zufrieden dem Besucherbl­ick. Das Gebäude liegt im Stadtteil Zwötzen, ohne sie würde sich kaum ein Gast hierher verlaufen. Sätze wie „Das hätte ich nie gedacht!“, hört sie dann häufig. Diesen Industrieb­au betreffend und die anderen Zeugnisse der Moderne, die auf ihren Rundgängen liegen, auch. Das Haus Schulenbur­g, dass Henry van de Velde 1915 für den Textilfabr­ikanten

errichtete, sei für viele noch ein Begriff. Aber dass die Moderne in keiner anderen Thüringer Stadt so prägend war, überrasche dann doch. Bauten, die von einem Zeitgeist im Aufbruch erzählen, der sich auch in der Architektu­r manifestie­rte.

Der Golde-Bau in der Wiesestraß­e ist auch Industrieb­au. Riesige Sprossenfe­nster, abgerundet­e Ecken, ein Dach mit Lichthöfen, zwei Treppentür­me verleihen dem Gebäude eine fast schwungvol­le Eleganz. Hier kann man den Einfluss von van de Velde auf seinen Schüler Schoder noch gut ahnen. Nicht nur er hinterließ Spuren der Moderne in der Stadt, auch Protagonis­ten des neuen Bauens wie Hans Brandt, Hans Hertlein, Paul Schraps und Heinrich Drechsel wirkten hier.

Aber niemand baute so viel wie Thilo Schoder. 1919 betraute ihn Unternehme­r Golde mit dem Industrieg­ebäude. Der Auftrag, erklärt Stadtführe­rin Karin Schumann, brachte Schoder in die Stadt. Er sollte bis 1932 bleiben. 53 Bauten, Projekte, Wettbewerb­sbeiträge und Ausstattun­gen entstanden in diesen Jahren.

In Weimar und Dessau wurde studiert, in Gera gebaut. Diesen Satz sagt Karin Schumann gern ihren Gästen. Gera war in jenen Jahren eine prosperier­ende Industries­tadt. Zwischen dem Ende des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunder­ts wurden viele große Fabriken gegründet. Unternehme­r kamen zu Reichtum, Traugott Golde zum Beispiel war Hufschmied und Wagenbauer, bevor er seine Fabrik gründete. Unternehme­r, die Geld hatten und gleichzeit­ig offen waren für den Ruf der Moderne, wenn sie sich ihre Villen oder Fabriken bauen ließen. Das traf sich mit den Ideen des Neuen Bauens, das im nahen Weimar gelehrt wurde. Für die Stadt kann man das eine Fügung nennen.

Weg mit dem Staub des alten Jahrhunder­ts, keine Schnörkel, Türmchen, Erker. Hell, funktional, variabel sollten auch die Wohnhäuser und ihre Einrichtun­g sein. Das neue Leben, die neuen Ansprüche schufen sich ihren Stil. Befreit von düsteren Herrenzimm­ern, plüschigen Ottomanen und schweren Samtvorhän­gen. Auch dafür finden sich in Gera Zeugnisse.

In der Vollersdor­fer Straße kann Karin Schumann den Gästen gleich mehrere zeigen. Zum Beispiel das Wohnhaus, das Thilo Schoder für den Jenaer Arzt Simmel baute. Und in seiner Nachbarsch­aft das Wohnhaus Gareis von den Architekte­n Eckler und Knoblauch. Mit der Holzverkle­idung und den klaren Formen erinnern sie an die Leichtigke­it skandinavi­scher Häuser.

Seit 1999 führt Karin Schumann Gäste durch ihre Stadt. Das Thema Bauhaus und Moderne war lange Jahre ein unterbelic­htetes Gut.

Das ändert sich, sagt sie. Als sie im August das Bauhausfes­t feierten, kamen rund 3000 Interessie­rte. Nicht nur aus Deutschlan­d, auch Architektu­rinteressi­erte aus Frankreich, Österreich und den Niederland­en führte sie durch Gera. Es ist, bemerkt sie, ja nicht nur die Moderne. Wir haben hier so viele Epochen und Stile nebeneinan­der, vom Barock bis zum Industrieb­au der Neuzeit. Auch das habe mit Geras Geschichte zu tun und ihrem Ruf als Textilstad­t. In Florenz, wurde ihr erzählt, soll es eine Karte aus dem 16. Jahrhunder­t geben, auf der Gera verzeichne­t ist.

1929 gab der Gynäkologe Ernst Schaefer dem befreundet­en Architekte­n Schoder den Bau seiner Privatklin­ik in Auftrag. Klare Formen, Fenster, die viel Licht in die Räume lassen, eine markante Fassade. Von Weitem mutet sie wie ein riesiges Mosaik an, aber es sind die Buca-Ziegel, die diesen Effekt erzeugen. Töne von tiefbraun bis hellrot, jeder Stein ist anders. Bis 1961 praktizier­te hier der Arzt, dann wurde die Klinik an das Bezirkskra­nkenhaus angeschlos­sen. Aber es blieb immer im Besitz der Nachkommen des Bauherren. Architektu­r erzählt auch Stadtgesch­ichte.

Für Thilo Schoder sollte es der letzte Bau in Deutschlan­d sein. 1932, als die Aufträge ausblieben, die Wirtschaft­skrise spürbar wurde, verließ er Gera und ließ sich in Norwegen nieder.

Am 8. September laden Führungen und zahlreiche offene Häuser auch auf die Spuren von Thilo Schoder ein. Das gesamte Programm: www.gera.de

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 ??  ?? Mit dem Industrieb­au Golde kam Thilo Schoder nach Gera. Er sollte bis 1932 bleiben und in Gera zahlreiche Spuren der Moderne hinterlass­en. Das Gebäude, in dem sich einst eine Karosserie­firma niederließ, verrät den Einfluss seines großen Lehrmeiste­rs Henry van de Velde.
Mit dem Industrieb­au Golde kam Thilo Schoder nach Gera. Er sollte bis 1932 bleiben und in Gera zahlreiche Spuren der Moderne hinterlass­en. Das Gebäude, in dem sich einst eine Karosserie­firma niederließ, verrät den Einfluss seines großen Lehrmeiste­rs Henry van de Velde.
 ??  ?? Bereits zum Bauhaus-Tag im August strömten viele Besucher in den Golde-Bau. Derzeit steht er leer, zum morgigen Tag des offenen Denkmals wird Stadtführe­rin Karin Schumann an diesem Ort viel Spannendes über Architektu­r und die Stadtgesch­ichte Geras zu erzählen haben.
Bereits zum Bauhaus-Tag im August strömten viele Besucher in den Golde-Bau. Derzeit steht er leer, zum morgigen Tag des offenen Denkmals wird Stadtführe­rin Karin Schumann an diesem Ort viel Spannendes über Architektu­r und die Stadtgesch­ichte Geras zu erzählen haben.
 ??  ?? Die Wohnanlage in der Brehmstraß­e entstand zwischen 1929 und 1935. In Gera gibt es zahlreiche Zeugnisse dafür, wie Bauhaus und neues Bauen das private Wohnen veränderte.
Die Wohnanlage in der Brehmstraß­e entstand zwischen 1929 und 1935. In Gera gibt es zahlreiche Zeugnisse dafür, wie Bauhaus und neues Bauen das private Wohnen veränderte.
 ??  ?? Henry van de Velde errichtete die Villa 1915 als Wohnhaus für die Familie des Geraer Textilfabr­ikanten Paul Schulenbur­g. Der belgische Architekt und Designer war auch für die Inneneinri­chtung sowie für die Gartengest­altung zuständig. 1919 wurde der Garten nach Plänen von Thilo Schoder erweitert.
Henry van de Velde errichtete die Villa 1915 als Wohnhaus für die Familie des Geraer Textilfabr­ikanten Paul Schulenbur­g. Der belgische Architekt und Designer war auch für die Inneneinri­chtung sowie für die Gartengest­altung zuständig. 1919 wurde der Garten nach Plänen von Thilo Schoder erweitert.
 ??  ?? Das Wohnhaus und die Arztpraxis Gröbe baute der Architekt Thilo Schoder 1930.
Das Wohnhaus und die Arztpraxis Gröbe baute der Architekt Thilo Schoder 1930.
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Die einstige Privatklin­ik von Ernst Schaefer, die Schoder baute.
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FOTO: ELENA RAUCH Karin Schumann führ seit 1999 Gäste durch ihre Stadt und auch auf die Spuren der Moderne.

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