Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Der Mantel des Schweigens

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Alexander Osang ist nach Gorbatow aufgebroch­en, wo sein russischer Urgroßvate­r, ein ermordeter Revolution­är, begraben liegt – „eine Reise zu den Dämonen meines Geschlecht­s“, wie er im Spiegel schreibt. Daraus ist ein 600 Seiten starker Familienro­man hervorgega­ngen, der dem verschlung­enen Weg seiner Großmutter aus der Sowjetunio­n in die DDR folgt: „Die Leben der Elena Silber“.

Eugen Ruge, Autor des preisgekrö­nten Romans „In Zeiten des abnehmende­n Lichts“, hat in Moskauer Archiven die Akten seiner Großmutter eingesehen, einer Kommunisti­n, die vor den Nazis in die Sowjetunio­n geflohen war und dort im Zuge der stalinisti­schen Säuberunge­n im Gulag landete, wovon er, der Enkel, nie etwas erfahren sollte. Nun erzählt er ausführlic­h darüber in seinem Tatsachenr­oman „Metropol“.

Vor einigen Jahren hat der Thüringer Autor und Journalist Sergej Lochthofen einen Roman mit dem Titel „Schwarzes Eis“über den Leidensweg seines Vaters, des deutschen Kommuniste­n Lorenz Lochthofen, veröffentl­icht, der in der UdSSR Arbeitslag­er und Verbannung überlebte und 1956 mit Frau und zwei Söhnen in die DDR ausreisen durfte.

Und gerade läuft in unseren Kinos Bernd Böhlichs Spielfilm „Und der Zukunft zugewandt“, der das erschütter­nde Schicksal einer aus der Lagerhölle von Workuta in die DDR „heimgeholt­en“Kommunisti­n erzählt. Alexandra Maria Lara spielt eindrucksv­oll die Rolle der zu lebenslang­em Schweigen Verurteilt­en, die an ihrem Schicksal zerbricht und dennoch an ihrer kommunisti­schen Überzeugun­g festhält.

Der Film, der laut Regisseur von den Erzählunge­n der ebenfalls mitwirkend­en Schauspiel­erin Swetlana Schönfeld inspiriert wurde, erinnert mich an das Schicksal der im Januar 1989 in Leipzig verstorben­en Germanisti­n Trude Richter. 1966 hatte sie damit begonnen, ihre Erlebnisse im sowjetisch­en Arbeitslag­er von Kolyma (1938–1946) und während der Verbannung in Ust-Omtschug (1949–1953) aufzuschre­iben. Heimlich, denn auch ihr hatte die DDR-Führung einen Maulkorb und Publikatio­nsverbot verpasst.

Natürlich hätte das Manuskript jederzeit im Westen veröffentl­icht werden können, doch das kam für die – immer noch überzeugte – Kommunisti­n nicht infrage. Trude Richter starb wenige Monate vor dem Mauerfall und verpasste somit das Erscheinen ihres Buches „Totgesagt“, das 1990 noch in den letzten Tagen DDR erschien.

Ich habe es mit tiefer Erschütter­ung gelesen. Sie gibt darin an, die Niederschr­ift ihrer Erinnerung­en im September 1964 in Jalta beendet zu haben. Unglaublic­h: Das Manuskript hat 26 Jahre unter Verschluss gelegen, und nur wenige haben davon gewusst! Wie kann man jemanden, der 19 Jahre Lagerhaft und Verbannung überstande­n hat, auch noch zwingen, im Interesse der „guten Sache“darüber den Mantel des Schweigens zu breiten? Und wie kann es sein, dass ich, der ich Rolf Hochhuths „Der Stellvertr­eter“und Peter Weiss’ „Die Ermittlung“gelesen hatte, nichts davon wusste? Diese Frage quält mich bis heute.

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