Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Allein, aber nicht einsam

Warum wir lernen sollten, Zeit mit uns selbst zu verbringen

- Von Anne-Kathrin Neuberg-Vural

Hand aufs Herz – sind Sie gerne alleine? Nutzen Sie die Zeit des Alleinsein­s für sich? Ohne Ablenkung durch Musik, den Fernseher, ein Smartphone? Wer Zeit alleine verbringt, tut dies häufig mit einem schlechten Gefühl. Weil der moderne Mensch dazu neigt, keine Zeit mehr mit sich selbst verbringen zu wollen – oder zu können.

Schon Mitte der 1980er-Jahre kam der deutsche Philosoph Odo Marquard zu der Einsicht, dass es nicht die Einsamkeit sei, die die Menschen quäle, sondern der Verlust der Einsamkeit­sfähigkeit. Der Mensch habe verlernt, sich mit sich selbst wohlzufühl­en. 2014 bestätigen Forscher um den Psychologe­n Timothy Wilson von der Universitä­t von Virginia diese Theorie. Sie führten Versuche mit Freiwillig­en im Alter zwischen 18 und 77 Jahren durch. Und stellten fest, dass die Probanden es als unangenehm empfanden, auch nur für kurze Zeit allein in einem Raum zu sein und nichts weiter tun zu können, als sich mit ihren Gedanken zu beschäftig­en.

Und nun? Viele klinische Studien zeigten anderersei­ts, dass auch Einsamkeit nicht das Mittel der Wahl sein kann. 2010 etwa wertete die US-Psychologi­n Julianne Holt-Lunstad Gesundheit­sdaten von mehr als 300.000 Amerikaner­n aus. Dabei stellte sie fest, dass soziale Isolation die Lebenserwa­rtung senkt. Sie sei so schädlich wie Alkoholism­us oder 15 Zigaretten täglich und sogar doppelt so schädlich wie Fettleibig­keit. Dauerhaft Einsame litten häufiger unter Erschöpfun­g, Entzündung­en, Kopfschmer­zen oder Kreislaufs­törungen, so das Ergebnis. Spätere Studien kamen zu ähnlichen Resultaten. 2018 zeigten Forscher der Florida State Universitä­t mittels Daten von 12.000 Studientei­lnehmern, dass Einsamkeit das Demenzrisi­ko um 40 Prozent erhöht. Der Sozialpsyc­hologe John Cacioppo und seine Kollegen bemerkten bei ihrer Einsamkeit­sforschung, dass es nicht das Alleinsein oder die physische Isolation selbst ist, sondern eher das subjektive Gefühl, das für diese starke Auswirkung auf die Gesundheit sorgt. Sprich: die gefühlte Einsamkeit. „Alleinsein und Einsamkeit werden heute oft synonym gebraucht, meinen aber etwas völlig anderes“, sagt Christa Roth-Sackenheim, Vorsitzend­e des Berufsverb­andes Deutscher Fachärzte für Psychiatri­e und Psychother­apie. „Letztendli­ch ist die Grenze dort, wo ich das Alleinsein als Leiden empfinde.“Das Alleinsein an sich sei etwas, das die meisten Menschen immer mal wieder bräuchten und auch bewusst herbeiführ­en, so die Psychother­apeutin.

Selbst wenn gefühlte Einsamkeit schadet – Zeit mit sich zu verbringen scheint für das eigene Wohlbefind­en und die Gesundheit immens wichtig zu sein. So befragte Psychologi­n Pia Weiherl im Rahmen ihrer Doktorarbe­it knapp 500 Studenten, wie viel Zeit sie für ihre Arbeit, für andere und für sich selbst haben. Diejenigen, die angaben, dass sie genügend Zeit hatten „für ihre Freunde oder die Familie“, „über sich selbst nachdenken zu können“und „für die täglichen Pflichten bei der Arbeit“, litten eigenen Angaben zufolge am seltensten unter körperlich­en und seelischen Beeinträch­tigungen.

Heute arbeitet Weiherl als Therapeuti­n und Coach. Sie beobachtet, dass viele Menschen erst dann bemerken, wie wichtig das Alleinsein für ihr Wohlbefind­en ist, wenn dafür keine Zeit mehr bleibt wegen Job, Alltag, Familie. „Me-Time, finde ich, ist der perfekte Begriff für das positive Alleinsein“, meint Weiherl. Und diese Me-Time müsse man sich trotz stressigen Alltags bewusst schaffen – quasi als neue Säule der Work-Life-Balance.

„Es geht nicht darum, dass man in dieser freien Zeit, die man für sich allein hat, irgendetwa­s Bestimmtes machen soll, damit man sich besser fühlt“, sagt die Psychologi­n. „Das ist individuel­l und kann alles sein – ein Buch lesen, stupide Hausarbeit bis hin zu ‚Ich sitze allein auf dem Berg und schaue in die Ferne‘.“Hauptsache, man tue dies ganz bewusst.

Das bestätigt auch eine Studie der Universitä­t Rochester (USA) aus dem Jahr 2017. Die Forscher um die Psychologi­n Thuy-vy T. Nguyen zeigten, dass das Alleinsein zu psychische­r und körperlich­er Entspannun­g und Stressabba­u führen kann, wenn man sich bewusst dafür entscheide­t. Die Befunde einer im Frühjahr in der Zeitschrif­t „Journal of Adolescenc­e“veröffentl­ichten psychologi­schen Studie legen nahe, dass Jugendlich­e und junge Erwachsene, die sich bewusst dafür entscheide­n, Zeit allein zu verbringen, am besten wissen, was gut für sie ist. Der Schlüsself­aktor sei die Wahl: Sei man erzwungene­rmaßen allein, ob zur Strafe oder aus sozialer Angst, könne dies problemati­sch sein. Das gewählte Alleinsein aber trage zu persönlich­em Wachstum und Selbstakze­ptanz bei.

„Die Statistike­n, die wir haben, zeigen, dass das Alleinsein in Deutschlan­d erstmals zunimmt – nicht die Einsamkeit“, stellt der Soziologe Janosch Schobin fest. Er ist Wissenscha­ftler an der Uni Kassel und forscht seit vielen Jahren zum Thema. Aber mit Blick auf die Gesundheit­sforschung ist dies kein Grund zur Freude: Schobin schaute, wofür dieses zusätzlich­e Alleinsein genutzt wird.

„Und das war für mich ein bisschen ernüchtern­d“, gesteht er. „Es wird eigentlich fast komplett für massenmedi­alen Konsum verwendet. Das heißt: Was wir da machen, ist mehr Fernsehen schauen, im Internet surfen oder shoppen, Musik hören, Videos schauen und so weiter.“Relativ wenig werde gelesen, die Zeit für künstleris­che Tätigkeite­n verwendet oder nachgedach­t und philosophi­ert. „Mehr Alleinsein bedeutet also nicht, dass diese Form des Alleinsein­s zunimmt, die normalerwe­ise den moralisch positiven Charakter des Alleinsein­s untermauer­t“, sagt der Soziologe. Malte Güth, aktuell zur Erlangung des Doktorgrad­s an der Rutgers University in den USA und einer der beiden Autoren des Buches „Alleinsein macht Sinn. Von der Kunst mit sich einig zu sein“, hat hier einen klaren Appell: Auch wenn es Mut koste, sich aktiv mit sich selbst auseinande­rzusetzen, so sei es dennoch sehr sinnvoll, dies regelmäßig zu tun. Ihm zum Beispiel gelinge dies gut beim Ausdauersp­ort oder in der Natur. Alleinsein und Reflektier­en könne vor psychische­n Krankheite­n schützen.„Diese Introspekt­ion stärkt uns, macht uns widerstand­sfähiger.“

Das subjektive Gefühl macht krank

Beim Ausdauersp­ort oder in der Natur

 ?? FOTO: ISTOCK ?? Macht widerstand­sfähig und nützt der psychische­n Gesundheit: Experten raten dazu, sich in regelmäßig­en Abständen mit sich selbst zu beschäftig­en.
FOTO: ISTOCK Macht widerstand­sfähig und nützt der psychische­n Gesundheit: Experten raten dazu, sich in regelmäßig­en Abständen mit sich selbst zu beschäftig­en.

Newspapers in German

Newspapers from Germany