Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
Keine gehäuften Fehlbildungen bei Babys
Thüringer Krankenhäuser und Hebammen geben Entwarnung. In Nordrhein-Westfalen läuft die Suche nach Ursachen
Erfurt. Nach der bislang rätselhaften Häufung von Fehlbildungen bei drei Babys in einem Gelsenkirchener Krankenhaus, die zwischen Mitte Juni und Anfang September mit fehlgebildeten Händen geboren wurden, geben Thüringer Krankenhäuser und Hebammen Entwarnung.
So habe es in der Klinik für Geburtsmedizin im Universitätsklinikum Jena in den vergangenen Monaten keine Auffälligkeiten gegeben, erklärte gestern Pressesprecherin Anke Schleenvoigt. Dort werden pro Jahr etwa 1500 Kinder geboren. „Die Rate der Babys mit Fehlbildungen liegt im üblichen Bereich.“
In Deutschland haben etwa 0,89 Prozent der Neugeborenen eine Fehlbildung, das sind rund 7000 von insgesamt knapp 800.000 Babys, die bundesweit geboren werden.
Auch im Sophien- und Hufeland-Klinikum Weimar, der nach Jena und Erfurt drittgrößten Geburtsklinik Thüringens, ist keine Häufung derartiger Fälle aufgetreten, sagte gestern Doreen Fritsch-Päsel, Pressesprecherin der Klinik. Bislang wurden in diesem Jahr dort 750 Kinder geboren.
„Uns sind keine solchen Fälle bekannt“, erklärte auch Annika Wanierke, die Landesvorsitzende des Hebammenlandesverbandes Thüringen.
Am Wochenende waren auch zwei Fälle aus Thüringen in die Schlagzeilen geraten. Der Fernsehsender RTL berichtete über eine Mühlhäuser Familie, deren zweijähriger Sohn mit nur einer gesunden Hand zur Welt kam. Die Bild-Zeitung hatte zudem von einem weiteren Fall aus der Stadt berichtet.
Nach einer ungewöhnlichen Häufung von Fehlbildungen bei Neugeborenen an einer Gelsenkirchener Klinik will sich indes Nordrhein-Westfalens Gesundheitsministerium einen genaueren Überblick verschaffen. Das Ministerium werde alle Klinken in dem Bundesland abfragen, ob dort ähnliche Fehlbildungen aufgefallen seien, sagte eine Sprecherin. Man nehme die Berichte „sehr ernst“. In der Klinik waren zwischen Mitte Juni und Anfang September drei Kinder mit fehlgebildeten Händen geboren worden. An jeweils einer Hand seien Handteller und Finger nur rudimentär angelegt. Fehlbildungen dieser Art habe man in der Klinik, in der jährlich 800 Babys zur Welt kommen, viele Jahre nicht gesehen. Fehlbildungen der Extremitäten könnten während der Schwangerschaft durch Infektionen auftreten. (mit dpa)
Essen.
Leon macht, was alle Babys machen, wenn sie im Buggy durch die Straßen geschoben werden: Er macht sich einen Spaß daraus. Fällt das Fläschchen neben den Wagen, sieht es aus wie Absicht. Kommt das Kuscheltier geflogen, sollte es wohl so sein. Mama oder Papa bückt sich, Leon strahlt. „Die Sachen fliegen ziemlich viel“, sagt Laura May, Leons Mutter: „Socken an den Füßen bleiben auch nicht lange dran.“Babys sind so.
Wer nicht genau hinsieht, käme nicht darauf, dass Leon keine rechte Hand hat. Dass er nie eine hatte. Seine Mutter hat sich bei unserer Redaktion gemeldet, nachdem sie Ende letzter Woche mitbekommen hat, dass es vielleicht eine Häufung dieser Missbildungen in NordrheinWestfalen gibt. Drei Fälle sind bekannt in Gelsenkirchen, je einer in den Städten Datteln und Bochum, drei im Kreis Euskirchen – und Leons aus Dorsten.
Verdächtig, auffällig – mit diesen Worten beschreiben Mediziner die Häufung von Fehlbildungen bei Neugeborenen in einem Gelsenkirchener Krankenhaus. Drei Säuglinge wurden dort zwischen Mitte Juni und Anfang September mit fehlgebildeten Händen geboren. An jeweils einer Hand sind Handteller und Finger der Babys nur rudimentär angelegt.
Die Art der Fehlbildungen weckt Erinnerungen an den Contergan-Skandal der 1960erJahre, den größten Arzneimittelskandal der Geschichte. Damals hatte ein Medikament mit dem Wirkstoff Thalidomid, das Schwangeren unter anderem gegen Übelkeit verordnet worden war, Fehlbildungen an den Gliedmaßen ausgelöst. Das NRW-Gesundheitsministerium will sich nun einen genaueren Überblick über die Situation verschaffen. Man werde alle Kliniken in dem Bundesland danach abfragen, ob dort ähnliche Fehlbildungen aufgefallen seien, sagte eine Sprecherin der Düsseldorfer Behörde. Das Bundesgesundheitsministerium von Jens Spahn (CDU) hat sich in einer ersten Stellungnahme zurückhaltend geäußert. Zu den konkreten Fällen lägen keine Erkenntnisse vor, teilte ein Ministeriumssprecher mit. „Nach der Geburt haben wir gedacht, es ist halt so passiert. Aber jetzt diese Häufung. Ist das eine Laune der Natur gewesen oder etwas anderes?“, fragt sich Laura May. Die Familie würde sich gern vernetzen mit anderen betroffenen Eltern in der Region, um sich auszutauschen und zur Ursachenforschung beizutragen. „Ich liebe ihn, als ob er gesund wäre“, sagt sie über ihren Sohn.
Leon ist heute fünf Monate und drei Tage alt. Wo seine rechte Handfläche beginnen sollte, sieht die Haut aus, als säßen darunter Knöchel. Doch es fühlt sich da ganz weich an. Leon lacht. Ist er da kitzlig? Irgendwann wird er es sagen können. Auf den Ultraschallbildern aus der Schwangerschaft lag Leon immer so im Bauch, dass die fehlende Hand verborgen blieb. Bei einem speziellen Screening auf eine mögliche Behinderung hin ist auch nichts zu sehen. „Ich wollte es nur wissen, ich wollte vorbereitet sein“, sagt die Mutter. Aber es war ja nichts. Das Bild hängt an der Wand im Kinderzimmer. Am Abend des 12. April, einem Freitag, setzen die Wehen ein. Am nächsten Morgen um 10.40 Uhr kommt Leon zur Welt. Noch während der Geburt sagt eine Ärztin plötzlich: „Die Hand fehlt.“
„Ich wusste zunächst gar nicht, was sie meinte“, erinnert sich Laura May. Später habe die Ärztin gesagt, so etwas habe sie noch nie gesehen. Es gibt zwei Fotos von jenem Morgen. Auf dem einen liegt Leon halb zugedeckt auf Mamas Bauch und schaut leicht schrumpelig in die neue Welt, wie Neugeborene es tun – neben ihm die linke Hand. Auf dem anderen ist der Stumpf der rechten zu sehen. Inzwischen hat Leon die „U4“, die vierte Regel-Untersuchung, hinter sich. „Alles bestens.“
Im August ist die Familie zu einem Zentrum für Kinderchirurgie in Köln gefahren. „Man hat uns mehrere Alternativen angeboten“, sagt Laura May. Die Transplantation von Zehen an die Hand. Das Einsetzen einer großen Prothese. „Es kann aber auch passieren, dass der Körper das abstößt.“
Und die Transplantation von Zehen würde dazu führen, dass Leon sein Leben lang Spezialschuhe tragen müsste. „Er hat schon eine Baustelle. Wir lassen das jetzt so. Er soll das später selbst entscheiden.“„Willkommen im Leben“steht über der Wickelkommode im Kinderzimmer.
Finger-Transplantation wäre sehr kompliziert