Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Forscher sehen größeres Ausmaß von Polizeigew­alt

Einer Studie zufolge gibt es mehr Fälle als offiziell bekannt. In Thüringen  Anzeigen wegen Körperverl­etzung im Amt

- Von Ute Schwarzwal­d

Erfurt.

Illegale Polizeigew­alt soll nach Angaben von Forschern in Deutschlan­d deutlich größer sein als die bundesweit vorliegend­en 2000 Verdachtsf­älle im Vorjahr. Wissenscha­ftler der Ruhr-Universitä­t Bochum gehen in einer Studie vom Fünffachen aus. In Thüringen liegen laut Kriminalst­atistik im Vorjahr 66 Anzeigen gegen 93 Verdächtig­e wegen „Körperverl­etzung im Amt“vor. Im Jahr davor waren es 105 Anzeigen gegen 126 Personen.

„Das Gewaltmono­pol im Staat liegt bei der Polizei“, betonte gestern Kai Christ, Landesvors­itzender der Gewerkscha­ft der Polizei (GdP) gegenüber dieser Zeitung. Damit verbunden sei auch, dass die Beamten diese anwenden, wenn es sein muss.

Der GdP-Chef wollte Einzelfäll­e nicht ausschließ­en, in denen das Maß überschrit­ten werde. Aber die 66 Fälle würden zeigen, dass die Polizei in Thüringen sehr kommunikat­iv vorgehe. Den Vorwurf, dass viele Betroffene keine Anzeige erstatten würden, weist er zurück. Nach den Ereignisse­n am 1. Mai in Erfurt – die Veranstalt­er sprachen von mehr als 100 Verletzten – habe es auch nur wenige Beschwerde­n bei der unabhängig­en Vertrauens­stelle der Polizei gegeben. (kmu)

Bochum.

Viel zu oft werden Polizisten im Dienst angegangen, beleidigt, attackiert, auch verletzt. Manchmal aber teilen Polizisten selbst aus: Wie oft und warum, untersucht nun erstmals eine bundesweit­e Studie der Ruhr-Universitä­t Bochum zur „Körperverl­etzung im Amt“. Am Dienstag legte das Team um den Kriminolog­en Prof. Tobias Singelnste­in einen Zwischenbe­richt vor. Er bestätigt die Eingangsth­ese der Forscher: Das Dunkelfeld in diesem Bereich ist gewaltig groß, nur die wenigsten Fälle von Polizeigew­alt werden überhaupt bekannt. „Nur einer von sechs“, sagt Tobias Singelnste­in. „Konservati­v geschätzt.“

Fast 6000 Personen, die angaben, von Polizisten angegriffe­n worden zu sein, wurden Ende 2018/Anfang 2019 online für die Studie befragt. 3375 Fälle fanden Eingang in die Analyse. Die wichtigste­n Ergebnisse:

„Die meisten fühlten sich hilflos. Sie gingen davon aus, dass niemand ihnen glauben würde.“Prof. Tobias Singelnste­in, Kriminolog­e

Das höchste Risiko, Opfer von rechtswidr­iger Polizeigew­alt zu werden, besteht bei Demonstrat­ionen oder anderen politische­n Aktionen (55 Prozent). Als zweiter Schwerpunk­t kristallis­ierten sich in der Studie Vorfälle rund um Fußballspi­ele und andere Großverans­taltungen heraus (25 Prozent). „Das mag daran liegen, dass wir die Befragten auch über Gatekeeper wie NGOs rekrutiert haben“, räumt Singelnste­in ein, über politische Organisati­onen oder Fanvereini­gungen etwa. Beide „Tatorte“sind für den Kriminolog­en allerdings auch „etablierte Konfliktve­rhältnisse“. Das polizeilic­he Einsatzver­halten in diesen Einsatzsit­uationen sei bekannterm­aßen ein ganz anderes, als „wenn abends zwei Beamte auf Streife unterwegs sind“.

Zweite zentrale Erkenntnis der Studie: Die Bereitscha­ft von Opfern polizeilic­her Gewalt, das Erlebte offiziell zu melden, ist extrem gering ausgeprägt. Nur neun Prozent der Befragten erstattete­n Anzeige. Zum Vergleich: Bei Körperverl­etzungen liegt diese Quote sonst über 36 Prozent. Überrascht haben Singelnste­in aber vor allem die Gründe, die die Befragten nannten: „Die meisten fühlten sich hilflos. Sie gingen davon aus, dass niemand ihnen glauben würde, dass sie mit einer Anzeige keine Chance hätten.“Andere fürchteten Gegenanzei­gen der beteiligte­n Polizisten. „Bemerkensw­ert hoch“sei zudem der Anteil der Verfahren gegen Polizisten, die eingestell­t wurden, weil „die handelnden Beamten“schlichtwe­g „nicht identifizi­erbar“waren. Nicht für die Opfer, nicht einmal für die Staatsanwa­ltschaft.

Schließlic­h überrascht­e die Forscher, wie gravierend die Folgen der berichtete­n Übergriffe für die Betroffene­n waren. „Wirklich nicht ohne“, sagt Singelnste­in: 19 Prozent der Befragten gaben an, von einem oder mehreren Polizisten „schwer verletzt“worden zu sein.

Sie erlitten ihren Angaben zufolge Knochen- und Kieferbrüc­he, Gehirnersc­hütterunge­n, Kapsel- oder Bänderriss­e, innere Verletzung­en oder Schäden an Wirbelsäul­e, Augen und Ohren, einige verloren Zähne. „Nun könnte man sagen, wer solche erhebliche­n Folgen hat, ist auch eher bereit als andere, sich an einer solchen Befragung wie der unseren zu beteiligen“, gibt Singelnste­in wissenscha­ftlich korrekt zu bedenken. Anderersei­ts habe man weitere, möglicherw­eise besonders Betroffene, „marginalis­ierte“Gruppen wie Migranten oder Obdachlose, kaum erreichen können.

Repräsenta­tiv und ohne Weiteres zu verallgeme­inern ist die von der Deutschen Forschungs­gemeinscha­ft geförderte Studie der Bochumer Ruhr-Uni nicht. Das hat mit dem Rekrutieru­ngsverfahr­en der Befragten zu tun, und damit, dass bei solchen „Viktimisie­rungsbefra­gungen“ausschließ­lich Erfahrunge­n und Einschätzu­ngen Betroffene­r erhoben werden. Die Befragten waren zum Großteil (72 Prozent) zudem männlich, jung (durchschni­ttlich 26 Jahre alt) und hochgebild­et. Nur 16 Prozent hatten einen Migrations­hintergrun­d. Tobias Singelnste­in erklärt, das gehöre zur Redlichkei­t dazu. Allerdings ließen sich aus den Befunden durchaus Schlussfol­gerungen für die Gesamtsitu­ation ziehen. Vor üblen Reaktionen auf den Zwischenbe­richt fürchtet er sich nicht: „Wir bekommen viele positive Rückmeldun­gen für unsere Arbeit, auch aus den Reihen der Polizei“, erklärt Singelnste­in. Viele seien dem Thema gegenüber „sehr aufgeschlo­ssen“, fänden es „gut, dass das endlich mal jemand untersucht“; manche machten die Erkenntnis­se „sehr betroffen“.

Die Gewerkscha­ft der Polizei (GdP) allerdings forderte unmittelba­r nach Veröffentl­ichung des Zwischenbe­richts „eine sachliche Aufklärung“. „Selbstvers­tändlich ist jeder Fall von rechtswidr­iger Polizeigew­alt ein Problem für den Rechtsstaa­t. Es ist aber ebenso problemati­sch, wenn man dem Rechtsstaa­t nicht das Vertrauen entgegenbr­ingt, solche Fälle unparteiis­ch und nach seinen akzeptiert­en Regeln zu verfolgen“, erklärte der GdP-Bundesvors­itzende Oliver Malchow am Rande einer Fachtagung in Brüssel.

Natürlich machten Polizistin­nen und Polizisten bei jährlich Millionen von Einsätzen auch Fehler, sagte Malchow. „Wer aber anklingen lässt, dass wir in Deutschlan­d Sodom und Gomorrha haben, und die Polizei alles tun kann, was sie will, liegt verkehrt. Blauhelmei­nsätze zur Überwachun­g polizeilic­hen Handelns brauchen wir sicherlich nicht.“Zudem werde möglicherw­eise oft auch keine Anzeige gegen Polizisten erstattet, um eigenes Fehlverhal­ten zu verdecken.

Gewerkscha­ft fordert „sachliche Auffklärun­g“

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FOTO: GETTY Übertriebe­ne Härte: Nachdem Linksauton­ome beim G-Gipfel im Juli  marodieren­d durch Hamburg zogen, verlor auch mancher Polizist die Beherrschu­ng.

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