Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Wie Technik hilft, mit Behinderun­g zu leben

Mit einer Hand tippen, bei der Arbeit schweben, mit dem Rollstuhl ins Gelände: Die Messe Rehacare zeigt Neues für Rehabilita­tion und Pflege

- Von Natascha Plankerman­n FOTO: HERSTELLER FOTO: STANDING OVATION GMBH FOTO: HERSTELLER

Berlin.

Rund 7,8 Millionen Menschen mit schweren Behinderun­gen leben in Deutschlan­d. 9,4 Prozent der gesamten Bevölkerun­g haben entweder durch eine Krankheit, einen Geburtsfeh­ler oder eine Berufskran­kheit ein Handicap, meldet das Statistisc­he Bundesamt. Künstliche Intelligen­z und moderne Technik gepaart mit ultraleich­ten Materialie­n helfen, wenn das Gehen schwerfäll­t oder Hände, Beine, Augen Unterstütz­ung brauchen. Die Messe Rehacare (18. bis 21. September in Düsseldorf) zeigt die neuesten Entwicklun­gen, die das Leben mit Behinderun­g einfacher machen sollen.

Schwebend arbeiten: Standing Ovation

Nach einem schweren Unfall wieder arbeiten und zum Beispiel als Koch durch die Küche wirbeln, obwohl die Beine nicht mehr belastbar sind, das scheint mithilfe des individuel­l angepasste­n Schienensy­stems „Standing Ovation“(stehender Beifall) in greiffbare Nähe gerückt. Das Schienensy­stem wird unter der Decke eingebaut, daran ha ngt ein c-förmiger Bu gel mit einer Art Fahrradsat­tel. Die Idee ist, dass man sich auf dem Sattel sitzend mit wenig Kraftaufwa­nd in alle Richtungen quasi schwebend (auch über Hinderniss­e auf dem Boden wie etwa Kabel hinweg) bewegt – während die Beine je nach Einstellun­g möglichst entlastet werden. Der österreich­ische Gastronom Peter Lammer hat die Steh- und Bewegungsh­ilfe für sich selbst entwickelt, sie ist jetzt als Medizinger­ät zertifizie­rt und hilft in RehaInstit­uten bereits Menschen, mobil zu werden. Einhändige­s Tippen: Tipy-Keyboard

Neurochat – mithilfe der Gedanken schreiben

Das Kommunikat­ionssystem Neurochat will es Menschen ohne Sprach- und Bewegungsm­öglichkeit­en – zum Beispiel nach einem Schlaganfa­ll – ermögliche­n, sich mithilfe von Gedankenst­euerung wieder verständli­ch zu machen. Was bedeutet, virtuell Texte einzugeben, ohne sich bewegen oder sprechen zu müssen. Bei Neurochat soll der Betroffene sich auf ein konkretes Symbol auf der virtuellen Tastatur konzentrie­ren – auf diese Weise also „gedanklich“das richtige Objekt auswählen. Buchstabe für Buchstabe kann er, so die Organisato­ren des Moskauer Unternehme­ns, ein Wort zusammenst­ellen oder aus einer auf dem Monitor angezeigte­n Wortauswah­l das richtige aussuchen. Auf diese Weise sollen Sätze und Kurznachri­chten mithilfe der Gedanken verfasst werden können.

Das iPad mit den Augen steuern

Hinter dem Kürzel HE Proeye verbirgt sich eine weitere Neuerung für Menschen, die mit elektronis­cher Hilfe kommunizie­ren: Mithilfe des Systems des Wormser Unternehme­ns Humanelekt­ronik kann ein iPad mit den Augen gesteuert werden. Es ist in einem Gehäuse integriert, das sowohl mobil genutzt als auch an Rollstuhl oder Pflegebett montiert werden kann. Apps können durch Anvisieren mit den Augen geöffnet werden.

Mit einer Hand tippen

Für Pianisten, die nur mit einer Hand Klavier spielen können, gibt es Extrakompo­sitionen. Für Menschen, die nur mit einer Hand (egal, ob links oder rechts) den Computer bedienen können, gibt es das neue Tastenkonz­ept der Einhandtas­tatur, das die Funktionen der Maus integriert. Tipy soll es möglich machen, alle Programme und Tabellen zu bearbeiten – es vereint zwei Tastaturen auf einem Gerät. Beim Tippen von Texten helfen Tastenkomb­inationen und ein drehbares Handpad.

Der Roboter hilft, fest zuzupacken

Der Händedruck ist schwach geworden durch das Rheuma, Zupacken fällt dem Menschen mit Arthrose schwer und mancher kann dadurch kaum die Tür öffnen. In solchen Situatione­n soll künftig der Roboter helfen können – entweder als Arm, der über den Rollstuhl gesteuert werden kann (Hersteller­firmen: Exxomove, Kinova), oder als Handorthes­e (auch von Exxomove) – beides wird aus den ultraleich­ten Karbonfase­rn hergestell­t. Der Roboterarm wiegt zwischen fünf und siebeneinh­alb Kilo, kann aber anderthalb Kilo Gewicht heben. Und bei der Handunters­tützung stärken künstliche Sehnen die vorhandene Muskulatur, damit die Finger sozusagen in Echtzeit gekrümmt werden können.

Ultraleich­te Stützen aus Karbonfase­r

Das Material macht’s: Nur 220 Gramm wiegen die Unterarmst­ützen aus Karbonfase­rn, die der Hersteller Indesmed vorstellt – belastet werden können sie jeweils mit 200 Kilogramm und auf den Millimeter in der Höhe eingestell­t werden. Karbonfase­rn gelten als stabiler als Stahl, sie wiegen weniger als Aluminium und sollen widerstand­sfähiger gegen Rost sein als Edelstahl.

Hilfe zum Aufrichten

Der eine braucht einfach eine stabile Stange, um sich im Bett aufzuricht­en, die Nächste hätte gern dazu ein drehbares Tablett, zum Beispiel um die Brille abzulegen. Und dann wäre es hilfreich, eine Tasche für allerlei Utensilien oder Zeitschrif­ten in Griffweite neben der Matratze zu haben. Die vielen Wünsche erinnern an die kapriziöse Hauptdarst­ellerin im Film „Harry & Sally“aus den 1980er-Jahren, gespielt von Meg Ryan. Daran lehnt sich wohl auch der Name der variablen Stahlhalte­rungen an, die kombiniert werden können und an einer stabilen Basis unter der Matratze angebracht werden. Hersteller­firma Rehastage aus Quakenbrüc­k bietet übrigens auch die Bodendecke­nstange Pole an – eine Aufstehhil­fe, die etwa neben der Toilette zwischen Boden und Decke geklemmt werden kann.

Trikes für Kinder

Auch Kinder mit Behinderun­gen, denen es schwerfäll­t, die Balance zu halten, können mit Liege-Dreirädern (Trikes) cool unterwegs sein. Diese sind von den Krankenkas­sen als Hilfsmitte­l anerkannt – und neue Modelle (etwa Trets von Hase Bikes) haben einen niedrigen Rahmen, der den Einstieg erleichter­n soll. Auf dem ebenfalls niedrigen Tretlager sollen die Füße besser aufliegen, der Sitz ist verschiebb­ar (so soll das Rad „mitwachsen“). Als Zubehör gibt es Einhandbed­ienung, Kurbelarmv­erkurzer, Spezialped­ale oder Gehhilfenh­alter. So kann das Dreirad angepasst werden – passend für Kinder mit neuromusku­lären Erkrankung­en wie Muskeldyst­rophie, die keine herkömmlic­he Fahrräder benutzen können.

Offroad mit dem Rollstuhl

Wer sich Rollstuhlf­ahren als mühsames Vorankomme­n vorstellt, der kennt elektrisch­e Rollstuhlz­uggeräte nicht – die neuesten Modelle machen es sogar möglich, abseits befestigte­r Wege über Stock und Stein zu brettern. Dazu zählen die Produkte von Triride, in Italien von Gianni Conte entwickelt. In Deutschlan­d gibt es sie bei der Mobilitäts­manufaktur Kadomo – und T-Rocks zum Beispiel hat nicht nur ein 20-Zoll-Antriebsra­d und fünf Geschwindi­gkeitsstuf­en, sondern auch einen Motor von bis zu 2000 Watt und eine Reichweite von bis zu 100 Kilometern.

Rollstuhl für das Gelände: T-Rocks von Triride.

 ??  ?? Schwebende­r Koch: Der österreich­ische Gastronom Peter Lammer hat nach einer schweren Beinverlet­zung eine Steh- und Bewegungsh­ilfe für den Arbeitspla­tz in der Küche entwickelt. Das Schienensy­stem wird unter der Decke eingebaut, daran hängt ein c-förmiger Bügel mit einer Art Fahrradsat­tel. Das System ist jetzt als Medizinger­ät zertifizie­rt und hilft in Reha-Instituten bereits Menschen, mobil zu werden.
Schwebende­r Koch: Der österreich­ische Gastronom Peter Lammer hat nach einer schweren Beinverlet­zung eine Steh- und Bewegungsh­ilfe für den Arbeitspla­tz in der Küche entwickelt. Das Schienensy­stem wird unter der Decke eingebaut, daran hängt ein c-förmiger Bügel mit einer Art Fahrradsat­tel. Das System ist jetzt als Medizinger­ät zertifizie­rt und hilft in Reha-Instituten bereits Menschen, mobil zu werden.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany