Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
Wie Technik hilft, mit Behinderung zu leben
Mit einer Hand tippen, bei der Arbeit schweben, mit dem Rollstuhl ins Gelände: Die Messe Rehacare zeigt Neues für Rehabilitation und Pflege
Berlin.
Rund 7,8 Millionen Menschen mit schweren Behinderungen leben in Deutschland. 9,4 Prozent der gesamten Bevölkerung haben entweder durch eine Krankheit, einen Geburtsfehler oder eine Berufskrankheit ein Handicap, meldet das Statistische Bundesamt. Künstliche Intelligenz und moderne Technik gepaart mit ultraleichten Materialien helfen, wenn das Gehen schwerfällt oder Hände, Beine, Augen Unterstützung brauchen. Die Messe Rehacare (18. bis 21. September in Düsseldorf) zeigt die neuesten Entwicklungen, die das Leben mit Behinderung einfacher machen sollen.
Schwebend arbeiten: Standing Ovation
Nach einem schweren Unfall wieder arbeiten und zum Beispiel als Koch durch die Küche wirbeln, obwohl die Beine nicht mehr belastbar sind, das scheint mithilfe des individuell angepassten Schienensystems „Standing Ovation“(stehender Beifall) in greiffbare Nähe gerückt. Das Schienensystem wird unter der Decke eingebaut, daran ha ngt ein c-förmiger Bu gel mit einer Art Fahrradsattel. Die Idee ist, dass man sich auf dem Sattel sitzend mit wenig Kraftaufwand in alle Richtungen quasi schwebend (auch über Hindernisse auf dem Boden wie etwa Kabel hinweg) bewegt – während die Beine je nach Einstellung möglichst entlastet werden. Der österreichische Gastronom Peter Lammer hat die Steh- und Bewegungshilfe für sich selbst entwickelt, sie ist jetzt als Medizingerät zertifiziert und hilft in RehaInstituten bereits Menschen, mobil zu werden. Einhändiges Tippen: Tipy-Keyboard
Neurochat – mithilfe der Gedanken schreiben
Das Kommunikationssystem Neurochat will es Menschen ohne Sprach- und Bewegungsmöglichkeiten – zum Beispiel nach einem Schlaganfall – ermöglichen, sich mithilfe von Gedankensteuerung wieder verständlich zu machen. Was bedeutet, virtuell Texte einzugeben, ohne sich bewegen oder sprechen zu müssen. Bei Neurochat soll der Betroffene sich auf ein konkretes Symbol auf der virtuellen Tastatur konzentrieren – auf diese Weise also „gedanklich“das richtige Objekt auswählen. Buchstabe für Buchstabe kann er, so die Organisatoren des Moskauer Unternehmens, ein Wort zusammenstellen oder aus einer auf dem Monitor angezeigten Wortauswahl das richtige aussuchen. Auf diese Weise sollen Sätze und Kurznachrichten mithilfe der Gedanken verfasst werden können.
Das iPad mit den Augen steuern
Hinter dem Kürzel HE Proeye verbirgt sich eine weitere Neuerung für Menschen, die mit elektronischer Hilfe kommunizieren: Mithilfe des Systems des Wormser Unternehmens Humanelektronik kann ein iPad mit den Augen gesteuert werden. Es ist in einem Gehäuse integriert, das sowohl mobil genutzt als auch an Rollstuhl oder Pflegebett montiert werden kann. Apps können durch Anvisieren mit den Augen geöffnet werden.
Mit einer Hand tippen
Für Pianisten, die nur mit einer Hand Klavier spielen können, gibt es Extrakompositionen. Für Menschen, die nur mit einer Hand (egal, ob links oder rechts) den Computer bedienen können, gibt es das neue Tastenkonzept der Einhandtastatur, das die Funktionen der Maus integriert. Tipy soll es möglich machen, alle Programme und Tabellen zu bearbeiten – es vereint zwei Tastaturen auf einem Gerät. Beim Tippen von Texten helfen Tastenkombinationen und ein drehbares Handpad.
Der Roboter hilft, fest zuzupacken
Der Händedruck ist schwach geworden durch das Rheuma, Zupacken fällt dem Menschen mit Arthrose schwer und mancher kann dadurch kaum die Tür öffnen. In solchen Situationen soll künftig der Roboter helfen können – entweder als Arm, der über den Rollstuhl gesteuert werden kann (Herstellerfirmen: Exxomove, Kinova), oder als Handorthese (auch von Exxomove) – beides wird aus den ultraleichten Karbonfasern hergestellt. Der Roboterarm wiegt zwischen fünf und siebeneinhalb Kilo, kann aber anderthalb Kilo Gewicht heben. Und bei der Handunterstützung stärken künstliche Sehnen die vorhandene Muskulatur, damit die Finger sozusagen in Echtzeit gekrümmt werden können.
Ultraleichte Stützen aus Karbonfaser
Das Material macht’s: Nur 220 Gramm wiegen die Unterarmstützen aus Karbonfasern, die der Hersteller Indesmed vorstellt – belastet werden können sie jeweils mit 200 Kilogramm und auf den Millimeter in der Höhe eingestellt werden. Karbonfasern gelten als stabiler als Stahl, sie wiegen weniger als Aluminium und sollen widerstandsfähiger gegen Rost sein als Edelstahl.
Hilfe zum Aufrichten
Der eine braucht einfach eine stabile Stange, um sich im Bett aufzurichten, die Nächste hätte gern dazu ein drehbares Tablett, zum Beispiel um die Brille abzulegen. Und dann wäre es hilfreich, eine Tasche für allerlei Utensilien oder Zeitschriften in Griffweite neben der Matratze zu haben. Die vielen Wünsche erinnern an die kapriziöse Hauptdarstellerin im Film „Harry & Sally“aus den 1980er-Jahren, gespielt von Meg Ryan. Daran lehnt sich wohl auch der Name der variablen Stahlhalterungen an, die kombiniert werden können und an einer stabilen Basis unter der Matratze angebracht werden. Herstellerfirma Rehastage aus Quakenbrück bietet übrigens auch die Bodendeckenstange Pole an – eine Aufstehhilfe, die etwa neben der Toilette zwischen Boden und Decke geklemmt werden kann.
Trikes für Kinder
Auch Kinder mit Behinderungen, denen es schwerfällt, die Balance zu halten, können mit Liege-Dreirädern (Trikes) cool unterwegs sein. Diese sind von den Krankenkassen als Hilfsmittel anerkannt – und neue Modelle (etwa Trets von Hase Bikes) haben einen niedrigen Rahmen, der den Einstieg erleichtern soll. Auf dem ebenfalls niedrigen Tretlager sollen die Füße besser aufliegen, der Sitz ist verschiebbar (so soll das Rad „mitwachsen“). Als Zubehör gibt es Einhandbedienung, Kurbelarmverkurzer, Spezialpedale oder Gehhilfenhalter. So kann das Dreirad angepasst werden – passend für Kinder mit neuromuskulären Erkrankungen wie Muskeldystrophie, die keine herkömmliche Fahrräder benutzen können.
Offroad mit dem Rollstuhl
Wer sich Rollstuhlfahren als mühsames Vorankommen vorstellt, der kennt elektrische Rollstuhlzuggeräte nicht – die neuesten Modelle machen es sogar möglich, abseits befestigter Wege über Stock und Stein zu brettern. Dazu zählen die Produkte von Triride, in Italien von Gianni Conte entwickelt. In Deutschland gibt es sie bei der Mobilitätsmanufaktur Kadomo – und T-Rocks zum Beispiel hat nicht nur ein 20-Zoll-Antriebsrad und fünf Geschwindigkeitsstufen, sondern auch einen Motor von bis zu 2000 Watt und eine Reichweite von bis zu 100 Kilometern.
Rollstuhl für das Gelände: T-Rocks von Triride.