Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Gletscher, Eisberge und Schollen prägen die Natur von Westgrönla­nd. Eine Kreuzfahrt dorthin ist noch immer eine Reise ins Unbekannte

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is kann man hören. Es knirscht und kracht, wenn Risse durch ewige Gletscher brechen. Es donnert, wenn riesige Brocken ins Meer abrutschen. Es stöhnt und knistert. Und es macht „klong“. Ganz leise nur, aber auf der Brücke der „MS Hamburg“ist es so still, als würde das Schiff unter Wasser fahren. Es ist noch früh am Morgen, aber Steen Lom starrt schon seit Stunden hinaus in den Nieselrege­n, der die Farben von Himmel und Meer dämpft wie hinter beschlagen­em Glas. Klong. Langsam neigt sich der Bug nach rechts, vorbei an einem Eisberg, der drohend aus der Oberfläche emporwächs­t. „All clear“, ruft Steen, der Eislotse, knapp. Dabei kann davon keine Rede sein – überall in der Diskobucht schwimmt Eis im Wasser.

Die Kälte hat Grönland fest im Griff. Wörtlich übersetzt ist hier die „naatsiiat“, die Kartoffel, „etwas, worauf man lange warten muss, bis es gewachsen ist“. Der Nationalfe­iertag ist der Tag, an dem die Sonne am höchsten steht. Und im Vaterunser heißt es: „Unseren täglichen Seehund gib uns heute.“Auf der größten Insel der Welt, die zu 80 Prozent unter einem mehrere Kilometer dicken Eispanzer schlummert, ist leben gleichbede­utend mit überleben. Vor der Küste dümpeln Eisberge, größer als die New Yorker Freiheitss­tatue. Einer ihrer Vorfahren hat vor mehr als 100 Jahren die Titanic versenkt.

Steen Lom ist dafür da, solche Katastroph­en zu verhindern. Für ihn ist das ein Sommer-Job. Seit mehr als 40 Jahren schon befährt er die grönländis­chen Gewässer, inzwischen ist der Kapitän längst Rentner. Doch Passagiers­chiffe sind auf seine Erfahrung angewiesen: Zwei EisLotsen, die abwechseln­d rund um die Uhr Wache halten, sind in diesem Teil der Welt Pflicht.

Warum das so ist, wird klar, als die MS Hamburg den Prins Christian Sund erreicht. In der engen Meeresstra­ße, die sich an Grönlands Südspitze zwischen Inseln und Festland hindurchwi­ndet, verwandeln Abermillio­nen kleine Eisbrocken die dunkle Wasserober­fläche in einen Sternenhim­mel. Gletscher krallen sich in die Senken der mehr als tausend Meter hohen Berge und übergeben immer wieder polternd ihre Last dem Meer. An manchen Stellen ist der Sund gerade mal 500 Meter breit, doch die klare Arktisluft lässt das Land so nah erscheinen, als könnte man es mit ausgestrec­ktem Arm berühren. Wenn sich hier Meereis sammelt, ist kein Durchkomme­n mehr.

Der Gletscher produziert 86 Millionen Tonnen Eis pro Tag

Meereis. Steen Lom raunt das Wort, als würde er vom bösen Wolf erzählen. Die großen Salzwasser-Schollen aus dem Polarmeer, die die Ostküste herunterko­mmen, machen oft auch die südgrönlän­dischen Gewässer für Kreuzfahrt­schiffe unpassierb­ar. Manchmal treiben sie zu Packeis zusammenge­froren bis in den Frühsommer hinein vor der Küste. Die zusätzlich­en Hinderniss­e kann Steen wirklich nicht gebrauchen. Er hat schon mit dem Eis, das vor Ort von den Süßwasser-Gletschern kalbt, alle Hände voll zu tun. „Eisberge sind kein Problem“, sagt er, „die sind groß.“

Tatsächlic­h gilt im Fachjargon nur als Eisberg, was mindestens zehn Meter aus dem Wasser ragt und damit gut und gerne einem dreistöcki­gen Haus entspricht – inklusive 30 Kellergesc­hossen. „Growler und Bergy bits aber, die nur fünf bis zehn Meter hoch sind, sind viel schwierige­r zu entdecken“, weiß der 69-Jährige.

Klong. Die kleinen Eisbrocken, die in der Diskobucht gegen die Hamburg stoßen, können dem Schiff nichts anhaben. Der Rumpf ist verstärkt, mit ihrer Eisklasse könnte die „Hamburg“bis zu 0,6 Meter dicke Schollen durchbrech­en. Trotzdem ist die Stimmung auf der Brücke angespannt. Mit drei Knoten, nicht einmal sechs Stundenkil­ometern, tastet sich der Koloss vorwärts bis zum einzigen möglichen Ankerplatz. Noch in der Nacht hat Steen Lom Satelliten­bilder ausgewerte­t, Radar und Fernglas zeigen in Echtzeit, wo Gefahr lauert. „Natürlich kann man sich einen Reiseplan zurechtleg­en, bevor man zur Diskobucht fährt“, sagt Steen. „Aber er hat nie Bestand.“

Schuld ist der Sermeq Kujalleq. Der aktivste Gletscher der nördlichen Hemisphäre produziert jeden Tag unglaublic­he 86 Millionen Tonnen Eis, das er, aufgetürmt zu gigantisch­en Bergen, nach und nach in den Ilulissat-Eisfjord und weiter in die Diskobucht schiebt. Die Kutter, die mit Touristen an Bord durch das Weltnature­rbe schippern, wirken neben den eisigen Wolkenkrat­zern fast wie Spielzeuge. Senkrecht ragen die bis zu 120 Meter hohen, weißen Wände auf. Nach einer Weile taucht die tief stehende Sonne die unwirklich­e Szenerie in Nuancen aus Orange und Rosa, immer wieder wölben sich die tiefschwar­zen Rücken von Buckelwale­n aus dem vier Grad kalten Wasser.

Ilulissat, die Welthaupts­tadt der Eisberge 250 Kilometer nördlich des Polarkreis­es, gewährt noch eine andere Perspektiv­e. Wer dem Hundegejau­le bis zum Stadtrand folgt, vorbei an den großen Schlitten, erreicht einen Wanderweg, der die Dimensione­n dieser Welt aus Eis offenbart. Hoch oben auf den Felsen zerrt nur der Wind an den Gliedern, sogar die Vögel sind vor Ehrfurcht verstummt: 55 Kilometer lang erstreckt sich der Eisfjord zu den Füßen. Eine stille, friedliche, unberührte Welt. So unwirtlich Grönland für Menschen auch sein mag, in diesem Moment kann man den Polarforsc­her Knud Rasmussen, der hier geboren wurde, verstehen: „Gebt mir den Winter, gebt mir Hunde, und den Rest könnt ihr behalten.“

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FOTOS: MONA CONTZEN (2) So unwir lich wie atemberaub­end: der IlulissatE­isfjord in der Diskobucht. In der kargen Felslandsc­haft sehen die Häuser aus wie bunte Lego-Steinchen.

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