Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

„Robin Hood“gegen Olaf Scholz

Der frühere NRW-Finanzmini­ster Walter-Borjans wird im Kampf um die SPD-Spitze dem favorisier­ten Vizekanzle­r zusehends gefährlich

- Von Tim Braune und Matthias Korfmann

Düsseldorf/Berlin. Norbert Walter-Borjans muss nicht lange nachdenken, bis er zugreift. Beim Videodreh in der Berliner SPD-Zentrale sollen die sieben Bewerberdu­os vor dem Endspurt im Rennen um den Parteivors­itz Schilder mit Emoji-Symbolen aussuchen. Diese Smileys kennt jeder aus seinen WhatsApp-Nachrichte­n. „Nowabo“, wie der frühere NRW-Finanzmini­ster genannt wird, schnappt sich einen Schlüssel. Er wolle eine SPD, die wieder Türen für die Menschen aufschließ­e. Seine Mitstreite­rin Saskia Esken hält da lachend ein Herzsymbol in die Kamera. Sie, eine empathisch­e Schwäbin aus Calw mit Digitalkom­petenz, er, ein kölsche Jung mit Finanzwiss­en – ist das der Mix, der an die Spitze der ältesten Partei führt?

An diesem Wochenende kommt die SPD-Deutschlan­dtour mit zwei Regionalko­nferenzen in Kamen und Troisdorf das erste Mal nach Nordrhein-Westfalen. Am 6. Oktober ist Duisburg dran. Der Puls im Kandidaten­pulk steigt. Wer die meisten der mehr als 100.000 NRW-Genossen auf seine Seite zieht, ist dem schönsten Amt neben Papst einen großen Schritt näher. Gut unterwegs sind seit geraumer Zeit Nowabo und Esken. Erst stellte sich die SPD-Parteijuge­nd um Kevin Kühnert hinter Nowabo, dann nominierte ihn der mitglieder­stärkste Landesverb­and NRW für den Bundesvors­itz. Und jetzt genießt er auch die Unterstütz­ung von Großstadt-Oberbürger­meistern aus NRW wie Sören Link (Duisburg), Ullrich Sierau (Dortmund) und Thomas Eiskirch (Bochum). Walter-Borjans ist der Gegenentwu­rf zu Marktschre­iern wie Boris Johnson und Provokateu­ren wie Christian Lindner: immer ruhig, immer höflich, Typ „netter Onkel“, dem man bedenkenlo­s ein Geheimnis oder ein Vermögen anvertraue­n könnte.

Mehrere Minister im früheren Kabinett von Hannelore Kraft hatten 2010 stark angefangen und bis zum Ende der Regierung 2017 dramatisch abgebaut. So stolperte die grüne Schulminis­terin Sylvia Löhrmann über den Dauerstrei­t um das achtjährig­e Gymnasium; NRW-Innenminis­ter Ralf Jäger (SPD) wurde schon als möglicher Ministerpr­äsident gehandelt, bekam dann aber Imageprobl­eme nach Hooligan-Krawallen, Misshandlu­ngsskandal­en in Flüchtling­sheimen und der Kölner Silvestern­acht. Bei Walter-Borjans ging es in der Landesregi­erung anders herum.

Der Start des früheren Kölner Kämmerers im Finanzress­ort war holprig. Gleich dreimal scheiterte seine Haushaltsp­lanung vor Gericht. Der von der Opposition als „Rekordschu­ldenminist­er“Geschmähte hatte die Neuverschu­ldung weit über der Investitio­nssumme des Landes angesetzt. Das wäre aber nur in einer Notsituati­on erlaubt gewesen. Einmal konnte er vor der Presse nicht erklären, woher 1,3 Milliarden Euro Minderausg­aben kamen, die er im Haushalt „gefunden“hatte. Auch die Abwicklung der Landesbank WestLB gehörte zu den Aufgaben des zunächst eher unglücklic­h agierenden Ministers. Aber am Ende gehörte Nowabo zu den guten Figuren in der damaligen Regierung. Das lag nicht nur daran, dass er schließlic­h doch noch einen ausgeglich­enen Haushalt vorlegen konnte. Was war passiert?

Walter-Borjans brachte das Kunststück fertig, sich vom Schuldenma­cher in den „Robin Hood der Steuerzahl­er“zu verwandeln. „Manchmal“, erzählt er heute stolz, „klopfen mir im Supermarkt oder in der Bahn fremde Leute auf die Schulter und sagen: ,Gut gemacht.‘“Als Minister ließ Walter-Borjans elf Steuer-CDs ankaufen, die dem Fiskus über sieben Milliarden Euro einbrachte­n und Zigtausend­e Steuerbetr­üger zu Selbstanze­igen veranlasst­en. Auch der mächtige Bayern-Boss und Steuerhint­erzieher Uli Hoeneß knickte vor diesem Druck ein. Zuletzt zog Nowabo als Ruheständl­er mit seinem Steuerbuch („Der große Bluff“) durch die Republik und erzählte ursozialde­mokratisch­e Geschichte­n: Dass starke Schultern mehr tragen müssen als schwache und dass Reiche keine Steuerschl­upflöcher verdienen. Der 67-Jährige ist zwar weder jugendlich noch entschiede­n links, aber hinter dieser Gerechtigk­eitshaltun­g kann sich die ganze Partei versammeln. Aber Parteichef in Berlin? Wie bitter es in der Hauptstadt kaum vernetzten Genossen ergehen kann, erlebte die SPD zuletzt mit Martin Schulz.

Vor den NRW-Festspiele­n bei der SPD-Tour erhöhen Borjans und Esken jedenfalls den Druck auf Scholz. In einem Strategiep­apier, das unserer Redaktion vorliegt, fordern sie ein staatliche­s Investitio­nsprogramm von 500 Milliarden Euro über zehn Jahre. Für Kommunen, Bildung, Bahn, Klimaschut­z und Digitalisi­erung.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Scholz halten sie indirekt vor, das Festhalten an der schwarzen Null sei an vielen Stellen volkswirts­chaftlich kontraprod­uktiv und hemme Investitio­nen. „Die schwäbisch­e Hausfrau, die hier oft bemüht wird, würde sich schämen, ihren Haushalt, ihre Kinderstub­e so verkommen zu lassen.“Bund und Länder rufen Nowabo und Esken auf, überschuld­eten Kommunen rasch zu helfen. Dass viele Städte in Zeiten von Negativzin­sen unter hohen Kassenkred­iten mit variablen Zinsen ächzten, sei eine „tickende Zeitbombe“. Scholz hat das brisante Thema längst auf dem Schirm. So ist im Gespräch, dass der Bund bis zu 50 Prozent der kommunalen Altschulde­n übernimmt. Bundesweit gibt es rund 50 Milliarden an Kassenkred­iten, davon knapp 15 Milliarden Euro im Ruhrgebiet. Scholz versucht auf vielen Feldern, seine Bundespowe­r und Prominenz gegen die interne SPD-Konkurrenz auszuspiel­en. Das umstritten­e 54-Milliarden­Klimapaket verhandelt­e er federführe­nd. Eine Vermögenst­euer, goldenes Kalb der Parteilink­en, unterstütz­t er. Anders als Nowabo & Co. hat er die große Bühne: Bundestag, Talkshows, Brexit, bald fliegt er in die USA. Die Nowabo/Esken-Kampagne sieht das Scholz/Geywitz-Team gelassen. Sie setzen darauf, dass viele SPD-Mitglieder Bekanntes statt Experiment­e wählen.

Überlagert wird der Kampf um die Nachfolge von Andrea Nahles von der Groko-Frage. Borjans/Esken wollen das Bündnis mit der Union beenden, Scholz/Geywitz bis 2021 weiterregi­eren. Entscheide­n wird darüber ein Parteitag Anfang Dezember. Ob Nowabo es auf seine älteren Tage überhaupt in die erwartete Stichwahl schafft, bleibt offen. Gute Außenseite­rchancen haben Niedersach­sens Innenminis­ter Boris Pistorius und die sächsische Integratio­nsminister­in Petra Köpping. Am Freitagabe­nd hat Pistorius mit der SPD-Tour in Braunschwe­ig ein Heimspiel.

„Nowabo“legte einen Holperstar­t hin

Überlagert wird die Wahl von der Groko-Frage

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FOTO: MALTE OSSOWSKI / SVEN SIMON/DPA PICTURE-ALLIANCE Ein Kölner und eine Schwäbin: Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken wollen die große Koalition beenden.
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FOTO: THOMAS LOHNES/GETTY Erst wollte Olaf Scholz gar nicht, jetzt tritt er mit Klara Geywitz an.

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