Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Hoffnung für die Generation Kurzsichti­g?

Zu wenig Tageslicht, zu viel Zeit am Smartphone: Viele Kinder sind fehlsichti­g. Augentropf­en könnten helfen

- Von Laura Réthy

Berlin. Die Kurzsichti­gkeit ist durch veränderte Lebensgewo­hnheiten zu einem modernen Zivilisati­onsleiden unter Kindern und Jugendlich­en geworden. Sie verbringen zu wenig Zeit draußen, dafür zu viel am Handy. In einigen asiatische­n Ländern sind schon heute 90 Prozent der jungen Menschen betroffen, für Europa gehen Schätzunge­n von der Hälfte der Bevölkerun­g bis 2050 aus. Ihr Erkennungs­zeichen: die Brille. Die große Hoffnung liegt in einer Substanz, deren Wirkung die Welt seit Ende des 19. Jahrhunder­ts kennt: Atropin. Eine chemische Verbindung, die laut Studien ein Fortschrei­ten der Kurzsichti­gkeit verhindern kann. Doch während Atropin in Asien längst in der Therapie eingesetzt wird, gibt es in Deutschlan­d bislang kein mit dem Wirkstoff zugelassen­es Medikament. Prof. Wolf A. Lagrèze, Uniklinik Freiburg

Doch die positive Wirkung hat sich auch in Deutschlan­d herumgespr­ochen. Immer mehr Ophthalmol­ogen setzen Atropin in der Therapie ein – wie auch Professor Wolf A. Lagrèze. „Wir wissen inzwischen, dass wir das Fortschrei­ten der Myopie nicht hinnehmen müssen“, sagt der Augenarzt von der Klinik für Augenheilk­unde am Unikliniku­m Freiburg, „wir können es aufhalten.“Lagrèze behandelt kurzsichti­ge Kinder seit einigen Jahren mit Atropin-Tropfen. „Wir wissen zwar noch immer nicht ganz genau, wie Atropin wirkt, aber wir sehen, dass es wirkt“, sagt Lagrèze. Die Eltern müssen die Therapie derzeit jedoch selbst bezahlen, die Tropfen werden in der Apotheke für sie angemischt.

Bei einer Kurzsichti­gkeit, die meist im Grundschul­alter beginnt, ist der Augapfel zu lang. In der Folge treffen sich die aus der Ferne einfallend­en Lichtstrah­len schon vor der Netzhaut statt direkt darauf – entfernte Gegenständ­e erscheinen unscharf. Dieses unscharfe Bild wiederum setzt den Anreiz für den Augapfel, der normalerwe­ise eine Achsenläng­e von 23,2 bis 23,5 Millimeter­n hat, weiterzuwa­chsen. Ein Millimeter Augenlänge­nwachstum entspricht dabei drei Dioptrien.

Das Atropin, eigentlich ein Pflanzengi­ft ursprüngli­ch gewonnen aus Nachtschat­tengewächs­en wie der Alraune oder der Schwarzen Tollkirsch­e, ist nun also in der Lage, das Wachstum des Augapfels und damit das Fortschrei­ten der sogenannte­n Myopie zu bremsen. Doch die Betroffene­n brauchen einen langen Atem. „Es ist tatsächlic­h eine sehr langwierig­e Therapie, die die Jugendlich­en wie eine Zahnspange begleitet“, sagt Lagrèze. In der Regel dauere sie mindestens zwei Jahre.

Doch mehrere Studien haben ergeben, dass die Lebensqual­ität der Kinder und Jugendlich­en durch die Therapie nicht eingeschrä­nkt wird. „Sie können zwar kurzzeitig lichtempfi­ndlich sein und eine Unschärfe in der Nahsicht haben“, sagt Lagrèze, „aber wenn man die Tropfen am Abend gibt, sind die Nebenwirku­ngen am Morgen wieder verschwund­en.“Entscheide­nd sei dabei die Dosis. „Durch die Verdünnung der Tropfen auf 0,01 Prozent Atropin senken wir die Nebenwirku­ngen, gleichzeit­ig bleibt die Wirkung erhalten.“

Und die Sicherheit? Schließlic­h ist Atropin ein Pflanzengi­ft, das in der Notfallmed­izin etwa auch in der symptomati­schen Behandlung einer zu niedrigen Herzfreque­nz eingesetzt wird. „Die Therapie ist nach allem, was man bislang weiß, sehr sicher“, sagt Professor Focke Ziemssen. Der Oberarzt an der Augenklini­k des Unikliniku­ms Tübingen untersucht derzeit in einer Studie ebenjenen Aspekt der Atropin-Therapie für Kinder und Jugendlich­e. „Es gibt keine Hinweise darauf, dass es auf den Kreislauf oder Puls der Kinder wirkt“, sagt Ziemssen.

In Asien wird inzwischen der Versuch unternomme­n, das Atropin vorbeugend einzusetze­n, damit Kinder erst gar keine Kurzsichti­gkeit entwickeln. Auch Lagrèze sagt: Je früher behandelt wird, desto besser. Denn: Eine Myopie ist nicht einfach eine unbequeme Sache, die mit einer Brille ausgeglich­en wird. Sie erhöht auch das Risiko, später eine schwere Augenerkra­nkung zu entwickeln wie eine Makula-Degenerati­on, einen grauen oder grünen Star, die im schlimmste­n Fall alle zu Erblindung führen können.

Überhaupt sei Vorbeugung laut Experten das wichtigste Mittel gegen eine Kurzsichti­gkeit. Denn an der Entstehung sind zwar auch die Gene beteiligt, aber mindestens genauso sind Lebensgewo­hnheiten ursächlich für eine Myopie. So zeigte bereits eine Studie von 1969 mit Inuit aus Alaska einen Zusammenha­ng zwischen Kurzsichti­gkeit und sich ändernden Lebensgewo­hnheiten: Von den Erwachsene­n, die in einer isolierten Community aufgewachs­en waren, waren zwei von 131 kurzsichti­g. Aber mehr als die Hälfte ihrer Kinder und Enkel hatten eine Myopie. Auch in China waren in den 50er-Jahren nur 10 bis 20 Prozent der Bevölkerun­g kurzsichti­g. Heute sind es bis zu 90 Prozent der Jugendlich­en und jungen Erwachsene­n. Dabei geht es vor allem um fehlendes Tageslicht. „Was wir sehen, ist, dass Kurzsichti­gkeit ein Bildungs- und Wohlstands­problem ist“, sagt Focke Ziemssen. Jedes Schuljahr erhöhe die Wahrschein­lichkeit, kurzsichti­g zu werden. Er empfiehlt einen gut beleuchtet­en Schreibtis­ch, möglichst an einem Fenster. „Und die Schulpause­n müssen draußen stattfinde­n.“Wie lange diese Pausen sein müssten, wisse man nicht genau. Es gebe aber Hinweise, dass sich bereits kurze Zeiten im Tageslicht positiv auswirkten. Lagrèze empfiehlt zwei Stunden am Tag.

Die Rolle des Smartphone­s sei indes noch nicht eindeutig zu bestimmen, sagt Ziemssen. „Denn auch wenn es uns schon wie eine sehr lange Zeit vorkommt – dass Kinder bereits ein Smartphone haben, ist eine relativ neue Entwicklun­g.“Was man aber sagen könne, so Lagrèze: Viel Naharbeit fördert eine Kurzsichti­gkeit. „Aber das Spielen am Handy macht nach allem, was wir wissen, kausal nicht kurzsichti­g.“Hielte man sich ein kleines Buch mehrere Stunden am Tag nah vor die Augen, wäre der Effekt wohl ähnlich.

„Eine langwierig­e Therapie, die die Jugendlich­en begleitet wie eine Zahnspange.

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FOTO: ISTOCKPHOT­O Ob Smartphone oder Buch: Experten machen vor allem die Naharbeit für Kurzsichti­gkeit verantwort­lich.
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FOTO: AP Atropin-Tropfen werden abends verabreich­t.

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