Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
Jenaer Mediziner zum Thema Fehlbildungen
Ekkehard Schleußner, Leiter der Klinik für Geburtsmedizin am Universitätsklinikum Jena, zu möglichen Ursachen für Entwicklungsstörungen im Mutterleib
Jena. In Deutschland haben etwa 0,89 Prozent der Neugeborenen eine Fehlbildung, das sind rund 7000 von insgesamt knapp 800.000 Babys, die bundesweit geboren werden. Dennoch ist eine Häufung wie in der Gelsenkirchener Klinik, bei der innerhalb weniger Wochen drei Kinder mit jeweils einer fehlgebildeten Hand geboren wurden, selten und auffällig und wird deshalb untersucht. Dennoch wurden schon immer und werden immer wieder Kinder mit Fehlbildungen geboren, erklärte Ekkehard Schleußner, Leiter der Klinik für Geburtsmedizin am Universitätsklinikum Jena.
Gab es bei Ihnen in letzter Zeit ähnliche Fälle von solchen Fehlbildungen bei Babys wie in Gelsenkirchen?
Nein. Wir sind ein Perinatalzentrum Level 1, in dem jährlich über 120 solcher Fehlbildungen betreut werden. Davon waren im vergangenen Jahr nur sieben Skelett- und Extremitätenfehlbildungen – und nur eine Handfehlbildung. In diesem Jahr haben wir bisher ebenfalls nur ein Kind mit Handfehlbildungen betreut – allerdings eines anderen Typs als in Gelsenkirchen.
Wie ist das Prozedere, wenn Fehlbildungen bei Neugeborenen auftreten?
In Thüringen werden solche Anomalien überwiegend bereits vor der Geburt im Schwangerenultraschall durch die betreuenden Frauenärzte und Spezialpraxen festgestellt. Damit kann eine ausführliche Beratung der Eltern bereits vor der Geburt erfolgen, um eine optimalen Versorgung der Kinder während und nach der Geburt zu ermöglichen. So sind Eltern wie auch das Kreißsaalteam auf solche Situationen vorbereitet. Sollten Fehlbildungen während der Schwangerenvorsorge nicht erkennbar gewesen sein oder fand diese nicht statt, gilt es zunächst alles dafür zu tun, dass das Neugeborene bestens versorgt wird. Dann müssen mit den Eltern in größter Klarheit die erkennbaren Auffälligkeiten besprochen und wenn möglich gezeigt werden. Das erfolgt bei uns immer gemeinsam durch den Geburtshelfer und den Kinderarzt, der das Neugeborene untersucht und betreut. Bei uns ist selbstverständlich, dass die Eltern in solchen Situationen durch die Psychologin im Perinatalzentrum begleitet werden.
Wann kann man von einer auffälligen Häufung von Fehlbildungen sprechen?
Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, da es bundesweit keine verpflichtendes Register für angeborene Fehlbildungen gibt. Konkret Handfehlbildungen sind extrem selten, so dass drei kurz nacheinander auftretende Fälle in einer relativ kleinen Klinik natürlich auffällig sind. In einem dafür spezialisiertem Zentrum dagegen werden entsprechende Fehlbildungen oft aus ganz Deutschland vorgestellt
– und dann besteht dort eine hohe Dichte.
Gibt es eine Meldepflicht für bestimmte Fälle?
Nein. Deshalb kann auch keine gesicherte Aussagen zur Häufigkeit einzelner Fehlbildungen oder Fehlbildungsgruppen für Mitteleuropa getroffen werden. Es gibt lokale Register wie das Mainzer Geburtenregister oder das Fehlbildungsmonitoring in Sachsen-Anhalt, die jedoch nur regionale Erfassungen vornehmen, sowie das europäische Register Eurocat, das versucht, Daten aus allen Staaten Europas zu sammeln.
Was zählt eigentlich zu Fehlbildungen bei Neugeborenen?
Wir unterscheiden strukturelle und genetische Anomalien, die Mutationen verursachen können oder – als häufigstes Beispiel – durch eine veränderte Chromosomenzahl das Down-Syndrom auslösen.
Zu den strukturellen Anomalien zählen wir veränderte Organe oder Organsysteme, dazu gehören Fehlentwicklungen des Skeletts, die Kiefer-Gaumen-Spalte oder auch Herzfehler. Die häufigste angeborene Fehlbildung in diesem Bereich ist die Anomalie der Niere und angeschlossener Systeme. Aber auch Fehlbildungen der Wirbelsäule oder des Gehirns sind möglich. Das ist ein ganz breites Spektrum. Im Prinzip können alle Organe betroffen sein.
Führt jede genetische Störung zu einer Fehlentwicklung?
Nein. Trotz einer genetischen Auffälligkeit kann sich der Körper normal entwickeln. Das liegt an verschiedenen Gründen, etwa an den unterschiedlichen Chromosomen-Paaren von Jungen und Mädchen. Strukturelle Anomalien dagegen können genetische Ursachen haben – es kann aber auch andere Gründe geben, vor allem in der Frühschwangerschaft.
Welche zum Beispiel?
Der häufigste und schrecklichste Grund ist ganz klar der Alkohol – weil ganz leicht vermeidbar.
„Auch Alkohol und Drogen in der Schwangerschaft können Fehlbildungen verursachen.“Ekkehard Schleußner leitet die Klinik für Geburtsmedizin am Universitätsklinikum Jena.
Er stört die Gehirn- sowie die Organentwicklung, kann zu Verzerrungen im Gesicht des Kindes führen.
Gerade in den ersten acht Wochen der Schwangerschaft, der wichtigsten Phase, in sich die Organe, die Extremitäten und das Herz entwickeln, passieren wunderbare, aber auch wahnsinnig komplexe Prozesse. Diese sind aber so filigran, dass jede Störung, sozusagen jeder falsch umgelegte Schalter zu extremen
Veränderungen der Entwicklung führen kann.
Nikotin und Drogen sind sicher auch nicht förderlich?
Nikotin ist zwar erwiesenermaßen nicht gesund, löst aber keine Fehlbildungen aus. Dafür behindert Nikotin das Wachstum – die Kinder sind oft zu klein. Drogen – ganz besonders Crystal Meth – lösen so starke Fehlbildungen aus, dass es zu vielen Fehlgeburten kommt.
Gibt es noch andere Gründe?
Ja, nicht nur äußere Einflüsse können Fehlbildungen verursachen, auch innere Faktoren spielen
eine Rolle, etwa Erkrankungen der Mutter.
So kann beispielsweise ein falsch eingestellter Typ-1-Diabetes zu solchen Fehlbildungen führen, weil durch den zu hohen Zuckerspiegel und nachfolgende biochemische Prozesse die Entwicklung des ungeborenen Kindes gestört wird. Auch sehr hohes Fieber in der Frühschwangerschaft kann den Entwicklungsprozess des Kindes unterbrechen.
Wie gefährlich sind Medikamente während der Schwangerschaft?
Ja, auch Medikamente können sich in der ganz frühen Phase der Schwangerschaft verheerend auf die Entwicklung des Kindes auswirken – es sei an den Contergan-Skandal erinnert. Deshalb müssen Arzt, Apotheker und Patientin immer ganz genau schauen, welches Medikament man in der Schwangerschaft nehmen kann – und welches nicht. Aber auch Röntgenund vor allem radioaktive Strahlung können zu Fehlbildungen führen, das wissen wie schrecklicherweise aus Hiroshima und Nagasaki, aber auch aus Tschernobyl und Fukushima.
Welche Fehlbildungen können denn schon im Mutterleib behandelt werden?
Die Frage müsste eher lauten: Was muss vor der Geburt behandelt werden? Fehlentwicklungen der Extremitäten sind natürlich nicht schön, aber die Kinder können in der Regel ein ganz normales Leben führen. Ist die rechte Hand betroffen, übernimmt oft die linke Hand deren Funktionen, etwa beim Schreiben. Kinder entwickeln dann ganz unbewusst und instinktiv spezielle Techniken, um das Handicap auszugleichen. Man muss abwägen, welche Fehlbildungen mit dem Leben vereinbar sind, welche Fehlbildungen sind nur schwer, also nur mit operativen Korrekturen, mit
dem Leben vereinbar – und welche sind gar nicht mit dem Leben vereinbar. Es gibt schwere Fehlbildungen, etwa wenn das Gehirn fehlt, die nicht mit dem Leben vereinbar sind. Diese Kinder können nicht leben. In diesen Fälle müssen mit den Eltern alle Fragen gründlich und ehrlich besprochen werden. Und es gibt Fehlbildungen, die durch die moderne Medizin behandelt werden können, indem beispielsweise das ungeborene Baby über die Nabelschnur im Mutterleib operiert wird. Das sind allerdings nur ganz wenige, experimentelle Fälle, die auch nur zwei Kollegen in ganz Deutschland durchführen.
Was wird dabei operiert?
So kann man beispielsweise das Zwerchfell oder die Lunge operieren, wenn es nötig ist. Für die sogenannte Fetalchirurgie gibt es in ganz Europa nur drei Zentren, wir arbeiten mit den Kollegen in Zürich zusammen. Bei der Fetalchirurgie wird das ungeborene Baby über einen Kaiserschnitt operiert. Aber auch, das muss man ganz klar sagen, sind spezielle Ausnahmen. Das sind experimentelle Therapien.
Wie gefährlich sind seitenverkehrte Organe?
Gar nicht. Es muss nur bei Behandlungen bekannt sein.
Wird es jemals keine Fehlbildungen bei Babys geben?
Nein.