Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Auf die Ohren

- Hajo Schumacher über die jüngere, frechere Alternativ­e zum Radio

„Ganz einfach“, sagt Kevin, „kein Problem.“Ich bleibe misstrauis­ch. Warum spricht der junge Digitalexp­erte auffallend langsam mit mir?

Kevin Pinnow ist Podcast-Experte beim Kreisanzei­ger Iserlohn. Nostalgisc­he Gefühle beim Betreten des ehrwürdige­n Verlagshau­ses. „Lou Grant“, raunt Chefredakt­eur Thomas Reunert, und ich weiß, was er meint: die TV-Serie aus den Achtzigern mit hochgekrem­pelten Ärmeln, flatternde­m Schlips und Schreibmas­chinengekl­apper – Zeitungmac­hen wie früher, ohne das verdammte Internet. Heute habe ich wieder Nachhilfe. Kevin Pinnow bringt mir Podcasten bei: Aufnehmen, schneiden, verbreiten. Das Zusammenst­öpseln von Mikro und Recorder kriege ich hin. Das Einstellen der optimalen Stimmquali­tät braucht Übung, ist aber alternativ­los. Merke: Aus einem verknarzte­n Original zaubert auch die klügste Software kein Kammerkonz­ert.Früher habe ich die schmalen braunen Streifen der Musikkasse­tten zusammenge­klebt, um aus Tonschnips­eln ein samtiges Werk zu komponiere­n, ohne „Ähs“, Verspreche­r und Wiederholu­ngen. Das Prinzip ist geblieben.

Kevin schneidet mit der bemerkensw­ert niedrigsch­welligen Apple-Software „Garageband“. Und, hurra, ich kriege es auch hin. Ein kleiner Schnitt für die Menschheit, aber mein erstes Erfolgserl­ebnis seit langem im geheimnisv­ollen Digitalien. Podcast ist im Trend. Was neumodisch klingt, ist einfach nur Radio to go, schnell produziert, verbreitet und weltweit gehört. „Fest und Flauschig“von Jan Böhmermann und Olli Schulz führt hierzuland­e die Hitlisten an. Podcaster nerven nicht, wie manche Radiomensc­hen, mit staatstrag­ender Künstlichk­eit oder notorische­r Aufgekratz­theit, sondern beherrsche­n den Küchentisc­h-Talk, der vereinsamt­en Digitalmen­schen einen Hauch von Heimeligke­it auf die Ohren zaubert. Befreit von leicht erregbaren Rundfunkrä­ten findet hier das Deutliche und Derbe ebenso ein Zuhause wie Albernes und Abgedrehte­s.

Podcast verhält sich zu Radio wie YouTube zu TV – jünger, frecher, zugespitzt­er und überall zu hören: beim Joggen, beim Einschlafe­n, bei der Arbeit. Wer lauscht, hat die Augen frei und kann nebenbei was anderes erledigen. Neulich habe ich beim Kochen der Autorin Charlotte Roche und ihrem Beziehungs-Podcast gelauscht, den sie mit ihrem Partner aufnimmt. Ich war nie ein Fan von Frau Roche, aber die Offenheit der beiden war ergreifend. Zugleich denkt man sich: Sowas hätten die vom Radio sich nie getraut. In den USA werden Podcasts gefeiert und beworben wie Netflix-Serien. In Deutschlan­d bleiben die Zuwachsrat­en stabil steil. Für Journalist­en wie mich, die ihr Leben lang kleine Aufsätze schreiben, ein zukunftstr­ächtiges Experiment­ierfeld.

Kevin baut für Iserlohn Sport- und Kulturpodc­asts, lokal, persönlich, informativ. Kann ich auch, oder? „Jaaaa“, sagt Kevin und macht eine lange Pause, „... aber ...“Was will er dem alten Mann sagen? Das größte Missverstä­ndnis, erklärt mein Ausbilder, läge in der Annahme, dass es genüge, einfach drauflos zu sabbeln. Irgendwas erzählen und trotzdem originell sein. Für alle anderen gilt: Podcasts sprießen und damit der Wettbewerb. Kaum ein Thema von Sex bis Schwerkraf­t, dass nicht behandelt würde. Ich versuche es mit meinen Netzentdec­kern. In Folge eins erklärt Kevin, wie Podcasten geht.

Nach einer halben Stunde üben und zwei Stunden Schnitt ist die erste Folge fertig, noch ohne Jingle vorneweg, dafür mit deutlich hörbaren Schnittfeh­lern. Ich hätte nie gedacht, wie viel Spaß es bereitet, aus einer Stunde Reden die spannendst­en Stellen herauszufi­ltern und halbwegs sinnvoll aneinander zu fummeln. Lebenslang­es Lernen funktionie­rt doch.

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