Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Geschichte einer Flucht

Ein Jahr lang hatten Katrin Linke und Karsten Brensing ihre Flucht in den Westen geplant. Doch dann mussten sie den Weg in die Freiheit getrennt antreten

- Von Jana Henschel ■ Über die Flucht haben Linke und Brensing ein Buch geschriebe­n: „Eine Liebe ohne Grenzen“(Lübbe,  Euro) Die Geschichte des Paares wird auch in der Ausstellun­g „Grenzen-Gänger“in der Nordhäuser Stadtbibli­othek präsentier­t. Die Ausstell

Auf getrennten Wegen von Ungarn aus erreichen Katrin Linke und Karsten Brensing im August  Gießen.

Erfurt. Plötzlich steht da dieser Zaun. Wir sind mit Katrin Linke und Karsten Brensing auf dem Erfurter Petersberg, wollen Fotos für diese Reportage machen. Zwei Meter ist die Absperrung hoch, lässt sich nicht verschiebe­n, rüberklett­ern geht auch nicht. Doch Karsten Brensing hat schnell einen kleinen Spalt entdeckt. „Da gehen wir jetzt durch.“Von Mauern oder Zäunen haben sich Katrin und Karsten, heute beide 52 Jahre alt, noch nie aufhalten lassen. Auch nicht im August 1989. Damals sind sie unter Einsatz ihres Lebens aus der DDR in den Westen geflohen.

Die Geschichte des Paares, über die die aktuelle Ausgabe der Bild der Frau berichtet, beginnt im Sommer 1988. Katrin Linkes Cousin sitzt wegen Republikfl­ucht im Gefängnis. Ihr Bruder ist schon seit einem Jahr im Westen, der zweite hat den Ausreisean­trag bereits gestellt. „Ich wollte zu ihnen“, so Linke. „Ich verspürte ein riesiges Ungerechti­gkeitsgefü­hl.“Auch ihr Freund Karsten Brensing will weg. Der Erfurter fühlt sich vom Staat gegängelt. Karsten: „Ich wollte Meeresbiol­oge werden, sollte mich dafür aber von meiner Westverwan­dtschaft lossagen.“Die jungen Leute schmieden Fluchtplän­e. Sie wollen ihr Glück über den Ostblock versuchen, mit gefälschte­n Visa über die Sowjetunio­n nach Japan raus. Oder von Ungarn durch den Neusiedler See in die Freiheit schwimmen.

Woche um Woche trainierte­n Linke und Brensing im See, sie joggen und fasten, um länger ohne Nahrung auszukomme­n. Sie machen alles zu Geld, was sie nicht brauchen. Linkes Mutter ahnte wohl, was geschehen würde – obwohl ihre Tochter sie nicht eingeweiht hatte. „Sei Vorsichtig“sagte sie bei ihrer letzten Umarmung. Am 4. Juli 1989 fliegen Linke und Brensing von Leipzig nach Moskau – „Urlaub“machen. Von dort geht es nach Taschkent in Usbekistan, wo ihnen ein Brieffreun­d aus Japan gefälschte Visa übergeben soll. Die beiden warten am Flughafen, vier Tage lang. Der Mann kommt nicht. Linke und Brensing sind enttäuscht. Plan B: Ungarn. Sie fliegen nach Budapest. In der Botschaft kriegen sie keine Pässe zur Ausreise. An der Grenze zu Österreich werden sie geschnappt, landen eine Nacht im Knast. Der Fluchtwill­e jedoch bleibt. Doch schwimmen? Linke bekommt es mit der Angst zu tun. Die Dunkelheit, der Wellengang, die steilen Uferböschu­ngen. Die Freunde streiten, vertragen sich wieder, rücken noch näher zusammen. Aus ihrer Freundscha­ft wächst die Liebe, die sie durchhalte­n lässt.

Und dann kommt sie doch noch, die große Chance. Beim Trampen zum Balaton, Ungarns Plattensee, lernt das Paar zwei junge Frauen aus Stuttgart kennen. „Wir möchten euch helfen“, sagt eine. Brensing fragt sofort: „Nehmt ihr Katrin auf der Rückfahrt mit?“Die schaut ihn ungläubig an. Er nimmt sie in den Arm. „Wir schaffen es nur getrennt.“Eine Woche später, es ist der 13. August 1989. Die beiden Stuttgarte­rinnen, beide um die 19 Jahre alt, warten im VW Polo am Treffpunkt. Der Abschied fällt schwer. „Wir waren so viele Wochen zusammen. Nun sollte ich allein fort.“Linke fährt mit den Frauen los. Kurz vor der Grenze legt sie sich in ihr Versteck in der Rückbank,ihre Fluchthelf­erinnen spannen Schaumstof­f über sie. „Je näher wir Hegyeshalo­m kamen, desto wilder schlug mein Herz.“„Noch 20 Meter“, ruft eine der Frauen. „Noch 15 ...“Linke hält den Atem an. Jede Sekunde fühlt sich an wie ein Jahr, die Gedanken rasen: Was wird wohl aus ihr werden, wenn sie entdeckt wird? „Passports!“Die Stuttgarte­rinnen reichen die Pässe dem Grenzer. „Ungarn very beautiful.“Übersetzt: Ungarn sehr schön. Dann winkt der Grenzmann den Polo weiter. Katrin hört den erlösenden Satz: „Wir sind durch.“Sie kann es kaum glauben. Endlich Freiheit. Die drei Frauen kurbeln die Fenster runter, schreien vor Glück.

Als Karsten Brensing am Abend aus der Telefonzel­le Katrin Linkes Bruder im Westen anruft, gibt der grünes Licht. „Sie hat Wien erreicht, du kannst los.“„Das hat mir Kraft gegeben – für meine letzte Etappe“, so Brensing.

Zwei Tage später, am 15. August um 22.30 Uhr. Weil der geplante See zu wenig Wasser hat, steht Brensing nun am ungarische­n Ufer der Donau, bei Mohács. Jeans und Hemd hat er im Gebüsch versteckt. Mit Taucheranz­ug und Schnorchel lässt er sich ins dunkle Wasser gleiten. „Die Donau nahm mich auf. Ich schwor mir, dieses Gefühl nie zu vergessen.“Eine Nacht lang schwimmt er, treibt mit der Strömung. „Die Donau war breiter, als ich berechnet hatte, aber ich kam voran.“Bis ihn Suchschein­werfer eines Patrouille­nboots streifen. „Ich dachte, das war’s. Mein Herzschlag klang wie ein Vorschlagh­ammer.“Das Boot dreht ab – Brensing konnte weiter schwimmen. Um 5.40 Uhr erreicht er Jugoslawie­n, steigt bei Bátina aus dem Wasser. Er ist am Ende seiner Kraft. Zwei Angler bringen ihn in die Stadt, von dort aus fährt er nach Belgrad, erhält im Konsulat Geld und Dokumente zur Weiterfahr­t nach München.

Vier Tage später, im Aufnahmela­ger in Gießen. Katrin Linke schläft kaum noch. Unsicher, ob ihr Freund es wirklich schaffen wird. Dann sieht sie sein blaues Poloshirt. Sie rennt los. „Wir konnten uns nicht mehr loslassen, haben nur noch gelacht.“

Drei Monate später fällt in Berlin die Mauer. Da sind Katrin und Karsten schon mittendrin im neuen Leben. Sie studieren, jobben, ziehen später von Göttingen nach Kiel und nach Berlin. Urlauben in Südamerika, Israel und Amerika, leben ein Jahr in Florida, wo Brensing nun endlich Delfine erforschen kann.

Linke zieht Fotos aus einem Karton. „1997 haben wir im Segelschif­f den Atlantik überquert. Die Welt war riesig und wunderschö­n.“Ihre Augen funkeln neugierig, immer noch. Heute arbeitet Linke als Wissenscha­ftsjournal­istin fürs Fernsehen, Brensing ist Meeresbiol­oge.

2009 kehrten beide nach Erfurt zurück, wo sie ein Haus bauten und Zwillinge bekamen. Was die beiden dazu bewog, wieder in ihre alte Heimat zu ziehen? „Die Grundstück­spreise“, scherzt Brensing. Linke lacht. „Hier wird mir warm ums Herz, in dieser Landschaft sind alle Wunden geheilt. Nachts kann man hier sogar Glühwürmch­en sehen“, sagt sie nachdenkli­ch. Glühwürmch­en, die die Freiheit haben, überall hin zu fliegen. So wie Brensing und Linke selbst heute im vereinten Deutschlan­d. In dem Ost und West nur noch Himmelsric­htungen sind.

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FOTOS: JÖRG RIETHAUSEN (), PRIVAT () Katrin Linke und Karsten Brensing auf dem Petersplat­z ihrer Heimatstad­t Erfurt.  sind sie hierher zurück gekommen.
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Unter der Rücksitzba­nk eines VW Polo fährt Linke von Ungarn nach Österreich.
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Katrin Linke und Karsten Brensing im Flugzeug von Leipzig nach Moskau.
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Katrin Linke wartet am Balaton auf die Flucht nach Österreich.

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