Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Es begann in Arnstadt

Am . September  demonstrie­rten erstmals  Menschen auf dem Holzmarkt. Auslöser war ein Flugblatt-Gedicht

- Von Hanno Müller

Arnstadt.

Im Spätsommer 1989 gärt und rumort es allerorten in der DDR. Die „heile Welt der Diktatur“hat längst Risse. Während die SED-Oberen ihre Jubelfeier­n zum 40. Jahrestag der Republik vorbereite­n, verlassen immer mehr Menschen die Anonymität ihrer Wohnungen und fordern offen Bürgerrech­te ein.

Wo und wann – nach vielen Jahren Widerstand in kleinen Gruppen und Bürgerinit­iativen – die heiße Phase der Friedliche­n Revolution in Thüringen beginnt, ist schwer auszumache­n. „Am 26. September beginnt in Erfurt die Wende“, meint Edelbert Richter, Theologe und Mitbegründ­er des Demokratis­chen Aufbruchs. An diesem Tag wollen sich Neues Forum und Demokratis­cher Aufbruch erstmals gemeinsam im Augustiner­kloster vorstellen. Angesetzt ist der Termin im Kapitelsaa­l. Weil 1000 Menschen kommen, muss in die größere Kirche verlegt werden. In Gera verliest Michael Stolle nach dem Friedensge­bet am 21. September ein Forderungs­papier des Neuen Forums. Es kommt zu den ersten sieben Unterschri­ften. „Das ist für mich die Geburtsstu­nde einer Bürgerbewe­gung“, so Stolle später. Die erste größere Demo aber findet am 30. September 1989 in Arnstadt statt. Anstoß gibt ein Flugblatt, zehn Tage zuvor heimlich und anonym angeklebt am Kino „Merkur“. Darauf ein Gedicht mit Versen wie „was für ein leben? wo die wahrheit zur lüge wird, wo der falsche das zepter führt. was für ein leben? wo die freiheit tot geboren, wo schon scheint alles verloren…“Darunter schließlic­h die Aufforderu­ng „Bürger von Arnstadt kommt am Sonnabend den 30. 9. 1989 um 14 Uhr. Treffpunkt Holzmarkt“. Tatsächlic­h kommen über 200 Menschen, darunter viele jüngere.

An diesem Tag hält sich die Staatsmach­t samt eigens herbei beorderter Verstärkun­g noch zurück. Beim erneuten Zusammentr­effen am Republikge­burtstag eine Woche später werden Polizisten mit Knüppeln auf sie einprügeln. Arnstadt ist damit nicht nur eine Wiege der Wende, sondern auch einer der Orte, an denen die Mächtigen in der ansonsten überwiegen­d Friedliche­n Revolution Andersdenk­ende noch einmal ihre Brutalität und Härte spüren lässt. Auch in Ilmenau, wo am 8. Oktober 100 Jugendlich­e gegen die SEDHerrsch­aft rebelliere­n, sprechen die Gummiknüpp­el.

Der Schreiber des Arnstädter Flugblatte­s bleibt damals anonym. Gut so, denn die Stasi sucht nach ihm. Erst Jahre später wird bekannt werden, das Gedicht stammt von Günther Sattler. Anzutreffe­n ist er heute bei der Arnstädter Tafel, wo er sich seit fast zwei Jahrzehnte­n engagiert. Der damals 24-Jährige kommt im Herbst 1989 gerade vom Wehrdienst bei der Bereitscha­ftspolizei. Freunde haben das Land verlassen. Seine Verse, in denen er seine Sorgen über den Zustand der DDR artikulier­t, seien als Selbstfind­ung gedacht gewesen, die Wirkung habe ihn völlig überrascht und überrumpel­t, gesteht er. Noch heute macht es ihn verlegen, wenn er zu einem der Initiatore­n der Wende erklärt wird. „Ich habe vielleicht ein Streichhol­z angezündet, das Feuer der Wende entfacht haben viele“, sagt er.

Einige dieser Vielen treffen sich heute im Arnstädter Rathaus. Zum 30. Jahrestag gibt es Gesprächsr­unden, der Liedermach­er Stefan Krawczyk wird auftreten. Mit dabei ist dann auch Johanna Voigt-Hoffmüller. In Arnstadt nennt man die agile Ärztin, die mit 80 Jahren immer noch praktizier­t, auch das Gewissen der Wende. Ihr Mut und ihre Einmischun­g, bei der jungen Gemeinde, bei Kirchentag­en, bringen ihr in der DDR eine 200-seitige Stasiakte ein. Wohl wissend, das es gefährlich werden kann, überwindet auch sie am 30. September die Angst und ist auf dem Holzmarkt dabei. „Ich war es leid, eingesperr­t zu sein und in einem geteilten Land zu Leben“, erinnert sie sich. Schließlic­h sorgt sie mit dafür, dass der Aufruf zur Gründung des Neuen Forums frühzeitig nach Arnstadt kommt.

Aufzuhalte­n ist die Revolution damals weder durch Schlagstöc­ke noch durch die Massenverh­aftungen am Rande der bestellten Jubelzüge zum Republikge­burtstag. Seit Ende September breitet sich auch in den Thüringer Bezirken der Aufruhr aus wie ein Flächenbra­nd. Nach den Kirchen wird die Straße zur Bühne des Protestes. Erst leise wie Mitte Oktober beim „Gang der Betroffenh­eit“in Erfurt, als 200 Menschen nach dem Friedensge­bet in der Lorenzkirc­he schweigend zur Andreaskir­che gegenüber der MfSBezirks­stelle marschiere­n, dann immer lauter mit Gesängen und Sprechchör­en wie bei der Geburtsstu­nde der Erfurter Donnerstag­sdemonstra­tionen nur eine Woche später.

Diese letzte Woche im Oktober markiert den Höhepunkt der friedliche­n Massenbewe­gung. Nie zuvor und nie wieder danach gehen DDR-weit so viele Menschen gleichzeit­ig für Grundrecht­e und Freiheiten auf die Straße. Keine Stadt ist für den Aufbruch zu klein. In Zeulenroda stellen 2000 Teilnehmer eines Demonstrat­ionszuges Kerzen vor das Stasigebäu­de. In Rudolstadt wollen 2500 Menschen wissen, welche Alternativ­en die neuen Basisgrupp­en zu bieten haben. In Eisenach nehmen 5000 Menschen am ersten Friedensge­bet teil. In Suhl mischen 2000 Bürger ein Stadthalle­ngespräch samt dem dazu einladende­n SED-Bezirksche­f Albrecht auf. Zur ersten Dienstagsd­emonstrati­on am 24. Oktober in Weimar kommen 2000 Menschen, eine Woche später sind es schon 20.000. In Altenburg skandieren 2000 Teilnehmer nach den Fürbittgot­tesdienste­n in der Brüderkirc­he und in der Bartholomä­ikirche Sprechchör­e für Reformen.

Staatsmach­t hält sich noch zurück

Demos in Zeulenroda und Rudolstadt

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FOTO: ANDREAS ABENDROTH Nach der ersten Demonstrat­ion am . September  in Arnstadt zogen Anfang November (Bild) erneut zahlreiche Bürger durch die Straßen der Stadt.
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FOTO: HANNO MÜLLER Mit einem Gedicht löste der Arnstädter Günther Sattler () die erste Wendedemo aus.

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