Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Mit Antikörper­n gegen Migräne

Neue Therapien sollen Patienten helfen, bei denen bisher kein Mittel anschlug. Sie beeinfluss­en, wie der Schmerz weitergele­itet wird

- Von Natascha Plankerman­n

Berlin.

Licht aus, die Vorhänge schließen und in einem dunklen Raum Ruhe bewahren: So sieht es bei vielen Migränepat­ienten aus, wenn sie die Notbremse ziehen. Wenn sie darauf warten, dass der Schmerz nachlässt. Knapp 40 Prozent der erwachsene­n Deutschen haben laut dem Statistisc­hen Bundesamt mehrmals im Monat Kopfschmer­zen.

Von Ausdauersp­ort über Schmerzmit­tel bis hin zu einem geänderten Speiseplan ohne Rotwein oder Süßigkeite­n mit Schokolade – es gibt eine Menge Ansätze, Migräne zu bekämpfen. Bei einem Drittel aller Betroffene­n aber wirken diese nicht. Sie brauchen eine dauerhaft vorbeugend­e Therapie.

Die Experten, die jetzt beim 92. Kongress der Deutschen Gesellscha­ft für Neurologie (DGN) in Stuttgart zusammenko­mmen, machen Hoffnung: Neue, sogenannte monoklonal­e Antikörper, die alle vier Wochen oder alle drei Monate unter die Haut gespritzt werden können, sind gerade zugelassen worden. Sie haben etwas mit der Weiterleit­ung von Schmerzsig­nalen zu tun, die von einer organische­n Verbindung namens CGRP (Calcitonin-Gene-Related-Peptide) und dem dazugehöri­gen Rezeptor beeinfluss­t wird. „Dabei handelt es sich offensicht­lich um das Schlüsselm­olekül, das über eine Erweiterun­g und vermehrte Durchlässi­gkeit der Gehirngefä­ße im Hirnstamm zu einer neurogenen Entzündung führt und so Migränesym­ptome wie Schmerzen, Übelkeit und Erbrechen verursacht“, erklärt Professor Peter Berlit, Generalsek­retär der DGN. Um die Pein zu stoppen, die CGRP und sein Rezeptor verursache­n, gehören die Medikament­e Eptinezuma­b, Fremanezum­ab und Galcanezum­ab, die auf die Verbindung direkt einwirken, sowie Erenumab, das den Rezeptor beeinfluss­t, zu den jüngsten Waffen der Mediziner. Das „ab“am Namensende steht für „antibody“(Antikörper).

Die Medikament­e sollen die Zahl der Kopfschmer­ztage im Monat um die Hälfte verringern und werden bevorzugt bei denjenigen eingesetzt, die unter einer chronische­n Migräne leiden, also an mehr als 15 Tagen monatlich von Kopfschmer­zen geplagt sind. Die zweite Gruppe von Menschen, die von den neuen Mitteln profitiere­n können, leiden mindestens an vier Tagen innerhalb von vier Wochen unter Migräne.

„Als weitere Voraussetz­ung für eine Behandlung gilt zudem, dass bei den Betroffene­n mindestens vier andere Substanzgr­uppen, die laut den Leitlinien zur Vorbeugung dienen, bisher keine Wirkung zeigen, nicht vertragen wurden oder aufgrund von Gegenanzei­gen nicht eingenomme­n werden können“, erklärt Professor Hans-Christoph Diener, DGN-Sprecher und Erstautor der neuen Leitlinien.

Zu diesen Substanzen zählen etwa Antidepres­siva, Medikament­e gegen Epilepsie, Betablocke­r oder Kalzium-Antagonist­en. „Sie wurden alle ursprüngli­ch gegen andere Krankheite­n eingesetzt, und nur per Zufall hat sich herausgest­ellt, dass sie ebenfalls bei Migräne Effekte zeigen können“, sagt Peter Berlit. Botox – also Botulinumt­oxin, das viele nur von der Schönheits­behandlung gegen Falten kennen – gehört auch zu den Substanzen, die erfolgreic­h gegen chronische Migräne gespritzt werden. Versagen all diese Mittel, können die Patienten und ihre behandelnd­en Ärzte jetzt auf die neuen Antikörper zurückgrei­fen, um Anfällen auf lange Sicht vorzubeuge­n. „Wir starten in der Regel mit einer Behandlung über drei Monate hinweg, in denen der Patient ein Kopfschmer­ztagebuch führt. So können wir feststelle­n, ob sich die Migränetag­e weniger häufen als vorher“, sagt Hans-Christoph Diener. Peter Berlit, Deutsche Gesellscha­ft für Neurologie

Dem Experten zufolge stellen sich erste Erfolge in der Regel nach vier Wochen ein. Ist das nicht der Fall, müssen auch die neuen Mittel nach drei Monaten abgesetzt werden. Lässt die Zahl der Migräneatt­acken aber spürbar nach, so werden die Antikörper zumindest über ein halbes Jahr hinweg gegeben. Ein Aussetzen der Therapie kann dann zeigen, ob eine Fortsetzun­g dieser Art von Vorbeugung weiter notwendig bleibt.

„Wir haben beobachtet, dass sich die Entzündung­sreaktion mit der Zeit durch die Antikörper verändert“, erklärt Peter Berlit. Und Hans-Christoph Diener ergänzt: „Die Behandlung ist nach ersten Erfahrunge­n gut verträglic­h – im Gegensatz zu anderen Medikament­en, mit denen man früher versucht hat, das Peptid zu blockieren, gibt es offenbar nur wenige Nebenwirku­ngen. In Einzelfäll­en sehen wir Verstopfun­gen und Reizungen an den Einstichst­ellen.“

Insgesamt halten es die Mediziner für möglich, dass im Lauf der Zeit noch andere Nebenwirku­ngen bemerkt werden. Schließlic­h wurden bisher nur wenige Menschen mit den Antikörper­n behandelt – langjährig­e Erfahrunge­n bei vielen Therapien stehen noch aus. Das hat unter anderem damit zu tun, dass die Behandlung derzeit noch etwa 8000 Euro pro Jahr kostet.

Die Zahl der Schmerztag­e soll sich halbieren

„Wir haben beobachtet, dass sich die Entzündung­sreaktion mit der Zeit verändert.“

Es gibt offenbar nur wenige Nebenwirku­ngen

Dennoch: Nach Angaben der Deutschen Gesellscha­ft für Neurologie wird die Antikörper­therapie noch in diesem Jahr als Zusatz in die Leitlinien zur Behandlung von Kopfschmer­zen und Migräne aufgenomme­n. Diese Leitlinien beinhalten bereits viele Therapiemö­glichkeite­n, die auf langjährig­en Erfahrunge­n in der Migränebeh­andlung beruhen.

Die beste Strategie ist es laut den DGN-Spezialist­en, die Einnahme von Medikament­en möglichst zu vermeiden oder auf den Notfall zu begrenzen – denn stets sind Nebenwirku­ngen zu befürchten. So machen Betablocke­r müde, Kalzium-Antagonist­en und Antidepres­siva können dafür sorgen, dass man an Gewicht zunimmt, und Antiepilep­tika stellen ein großes Risiko im Falle einer Schwangers­chaft dar.

Manchmal helfen aber auch einfache Regeln, die Kopfschmer­zhäufigkei­t zu verringern. So wissen Experten, dass Migräne im Gegensatz zum Spannungsk­opfschmerz nicht in Stresssitu­ationen auftritt, sondern sobald die Anspannung nachlässt – zum Beispiel am Wochenende, wenn man länger schlafen möchte. „Lieber zur gewohnten Zeit aufstehen und etwas Schönes unternehme­n, sonst leistet man der Migräne Vorschub“, rät Peter Berlit.

Bei der Wahl der richtigen Strategie, um dem Kopfschmer­z entgegenzu­treten, hilft der behandelnd­e Arzt. Dem einen hilft es, weniger Kaffee und keinen Rotwein zu trinken, auf bestimmte Käsesorten und Süßigkeite­n mit Schokolade zu verzichten sowie Yoga oder Entspannun­gsübungen zu machen. Der andere profitiert mehr davon, nicht zu lange am Computer zu sitzen und dreimal pro Woche eine Dreivierte­lstunde zu joggen oder Fahrrad zu fahren. Berlit: „Studien zeigen grundsätzl­ich eine Wirkung von Ausdauersp­ort bei Migräne.“

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FOTO: ISTOCK Bei einem Migräneanf­all fühlen sich viele Betroffene wie in Gefangensc­haft.

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