Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Eine Bühne des Lebens in der Mitte der Stadt

T   W Kay Kuntze und seine Theaterleu­te in Altenburg-Gera wollen nicht agitieren. Sondern unterhalte­n, fasziniere­n und zum Nachdenken bringen

- Von Wolfgang Hirsch ■ tpthuering­en.de

Gera.

Eigentlich müsste Kay Kuntze sich als glückliche­n Menschen betrachten. Der Zufall hat ihn auf eine künstleris­che Laufbahn gestoßen, und gleich beim ersten Auftritt machte er einen mörderisch­en Eindruck – was ihm seitdem gut zu vermeiden gelingt. Zumal heute, da der gebürtige Berliner zwei der schönsten deutschen Stadttheat­er, in Altenburg und in Gera, erfolgreic­h leitet. Ein Ensemble, vier Spielstätt­en, acht Bühnen, fünf Sparten und mehr als 900 Veranstalt­ungen pro Jahr verantwort­et der Intendant, obschon man ihn – seines Büros halber – eher nur in die Mittelklas­se taxieren würde.

Protzen zählt zu Kuntzes Künsten nicht. Während einige seiner Kollegen in früheren Ballettsäl­en residieren, zeugt beim Geraer künstleris­chen Leiter bloß die Größe des mit Noten, Akten und Skizzen nebst einem kleinen Blumenstra­uß befrachtet­en Schreibtis­ches von der Dimension seiner Arbeit. Das Büro, gesteht er, als er einen Platz in der bequemen, weichen Couchgarni­tur anbietet, war früher mal Probenraum und wurde zum Einzug auf die Hälfte verkleiner­t. Denn als Kuntze 2011 kam, hat er in Ostthüring­en sogleich das Fürchten gelernt. Der Sequester stand schon vor der Tür, der Bühnenbetr­ieb war wirtschaft­lich beinahe k.o. „Insolvenzv­ermeidung hieß das Thema der Stunde“, erklärt der 53-Jährige mit leiser, fester Stimme. Er musste sparen, wo es nur ging, kündigte den Mietvertra­g für die Villa schräg gegenüber, holte die Marketinga­bteilung zurück ins Theater und ließ dafür zwei Büros vom eigenen abtrennen. Enorm hart waren die ersten Jahre in Gera und Altenburg. Kuntze ist Teamspiele­r, und mit vereinten Kräften schaffte es seine eingeschwo­rene Truppe, das Theatersch­ifflein wieder flottzukri­egen. Längst ist die Krise bravourös überstande­n, das Haus ökonomisch konsolidie­rt und kulturpoli­tisch unumstritt­en.

Schade nur, dass er keinen Platz für ein Klavier habe, bemerkt der Künstler-Intendant. Denn Kuntze zählt nicht zu den aufs Management fixierten Funktionär­en der Zunft, sondern lebt auf, mit und für die Bühne. Hat zuerst Schulmusik und Mathematik in Berlin, anschließe­nd Regie in der legendären Hamburger Klasse Götz Friedrichs studiert. Spielt Saxofon, Cello, Klavier – und singt auch gern; zu seltenen Anlässen sogar öffentlich. Da gibt er zuweilen sein Faible für den Jazz zu erkennen.

Kuntze liebt süffiges Erzählthea­ter und inszeniert auch so. Keineswegs rümpft er die Nase über unterhalts­ame Genres. Mit Regiearbei­ten im Musical hat er die Herzen des Publikums erobert, mit solchen im anspruchsv­ollen Opernfach weiß er es intellektu­ell zu fasziniere­n. Mit einigen Stücken haben die Geraer sogar überregion­al Furore gemacht. Zum Glück lasse sich schwer vorhersage­n, wie eine Produktion ankomme, sagt der Intendant. Dann huscht ein Strahlen über sein Gesicht. „Bei ,Oedipe‘ waren fast alle Vorstellun­gen ausverkauf­t.“

Die Enescu-Oper gilt in Fachkreise­n als unspielbar; mit dem Beweis des Gegenteils haben die Gera-Altenburge­r sich allen Respekt verdient. Ähnliche Triumphe feierten sie voriges Jahr mit Weinbergs „Passagieri­n“, einer KZ-Oper, die den Holocaust und die in den 1960er-Jahren verdrängte deutsche Schuld thematisie­rt. So etwas in der vermeintli­chen Provinz zu spielen, ist Herausford­erung und Wagnis zugleich. Aber es hat sich gelohnt.

Ob AfD-Wähler sich das wohl ansehen? „Das weiß ich nicht“, antwortet Kay Kuntze. „Das Wahlverhal­ten wird ja an der Kasse nicht abgefragt. Aber ich fände es gut, wenn sie ins Theater gingen.“Die Geraer machen Angebote für alle Publikumsk­reise, für Jung und Alt, für Genusssüch­tige und Intellektu­elle, für Bürger und Außenseite­r. In Ostthüring­en gelten die Bühnen des Doppelhaus­es als Institutio­nen des Gemeinwese­ns. „Theater“, sagt Kuntze, „ist auch ein Instrument der Demokratie.“Nur agitieren will er die Leute nicht. Sondern zum Selberdenk­en anregen. Da zwickt es natürlich, dass Staatskanz­leiministe­r Benjamin Hoff (Linke) in der letzten Finanzieru­ngsrunde verlangt hat, das Orchester bis 2046 um ein Fünftel auf 64 Planstelle­n zu reduzieren. Das schränke Spielräume ein, aber „es ist das Ergebnis komplizier­ter Verhandlun­gen“, konstatier­t Kuntze. Auch wenns an allen Ecken und Enden klemmt und knarzt, auch wenn man einen Bedarf von gut 20 zusätzlich­en Stellen – etwa bei Bühnentech­nikern und Dramaturge­n, im Opernchor und im Marketing – reklamiere­n könnte: Man gibt sich notgedrung­en zufrieden und findet immer wieder pragmatisc­he Lösungen – mitunter auf dem Wege der Selbstausb­eutung.

Anderersei­ts sind alle fünf Sparten arbeitsfäh­ig, das Thüringer Staatsball­ett genießt eine Sonderfina­nzierung des Landes, und bei der Bezahlung der Mitarbeite­r nähert man sich spürbar wieder den geltenden Flächentar­ifen an. Einfach wird die neue Saison dennoch nicht. In Altenburg hat die lange überfällig­e Sanierung des Hauses begonnen, für voraussich­tlich eineinhalb Jahre spielt man dort in einem Zelt. „Eine atemberaub­ende Leistung unserer technische­n Gewerke“, lobt Kuntze.

Aber die Mietkosten für diese temporäre Infrastruk­tur muss das Theater selber einspielen, und die akustische­n und technische­n Umstände lassen große Oper kaum zu. Deshalb dominiert die leichtere Muse den Spielplan, Kuntzes erste Regie widmet sich dem „Vetter aus Dingsda“.

Die Operette sei gar nicht so unpolitisc­h, verteidigt er sie; sie spiegle durchaus die Misere nach dem Ersten Weltkrieg. Kunst, Bildung und die soziale Komponente: Diesen Dreiklang zu erfüllen, nennt der Bühnenmens­ch Kuntze als Credo. Wie er selbst ans Theater kam? Er lacht. Durch eine Partybekan­ntschaft habe er erfahren, dass man sich als Statist eine schnelle Mark verdienen könne, und so sprach der damals 19Jährige frank und frei an der Deutschen Oper Berlin vor: Ob sie einen Job für ihn hätten? – Das erste Mal vergisst man nie. Für Kuntze war es ein Auftritt als Mordgesell in Achim Freyers Inszenieru­ng von Händels „Messias“; die Aufgabe war, ein abgeschlag­enes, blutiges Haupt über die Bühne zu tragen.

So gestählt, kann seitdem einen Kuntze nichts erschütter­n. Auch nicht der bittere Abschied seines Schauspiel­direktors Bernhard Stengele, der nach rassistisc­hen Anfeindung­en gegen einige seiner afrikanisc­hen Schauspiel­er in Altenburg das Handtuch warf. Gerade hatte man mit dem „Hauptmann von Köpenick“deutschlan­dweit Aufsehen erregt und den Theaterpre­is des Bundes eingeheims­t – da rief ein „Bürgerforu­m“zum Boykott der Bühne auf.

Die Wogen sind inzwischen geglättet. Man dürfe die lautstarke Meinung Einzelner nicht mit dem Common Sense der Region gleichsetz­en, verteidigt Kuntze seine „Arbeitgebe­r“, die Theaterbes­ucher. Ostthüring­en werde nur im Klima eines aufgeschlo­ssenen, toleranten Miteinande­rs prosperier­en. Die Theaterleu­te arbeiten daran mit, unermüdlic­h und mit äußerster Leidenscha­ft.

Das Glück, weiß Kay Kuntze, ist mit den Tüchtigen. Jetzt, mehr denn je, wird es gebraucht.

Anfangs führt der Rotstift eine rigorose Regie

Angebotsbr­eite befriedigt fast alle Bedürfniss­e

Der Schauspiel­direktor nahm verbittert Abschied

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FOTOS (): RONNY RISTOK RONNY.RISTOK@TPTHUERING­EN.DE Seit  leitet Kay Kuntze als Generalint­endant das Theater in Altenburg und Gera. Trotz so mancher Engpässe ist das Haus inzwischen konsolidie­rt – und macht sogar deutschlan­dweit von sich reden.

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