Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Größere Unterschie­de zwischen Arm und Reich im Osten

Studie der Hans-Böckler-Stiftung nennt Lohnunglei­chheit als Grund. Forderung nach höheren Hartz-IV-Sätzen

- Von Hanno Müller

Erfurt. Einkommens­unterschie­de zwischen Armen und Reichen sind in den neuen Bundesländ­ern deutlich größer als in den westlichen. Zudem drifteten sie in Ostdeutsch­land in den letzten Jahren auch schneller auseinande­r. Zu diesem Ergebnis kommt der Verteilung­sbericht des Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­chen Institutes (WSI) der gewerkscha­ftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. „Die Schere bei verfügbare­n Einkommen hat sich weiter geöffnet, die Einkommens­ungleichhe­it befindet sich trotz guter wirtschaft­licher Entwicklun­g auf einem historisch­en Höchststan­d“, sagt WSI-Expertin Dorothee Spannagel.

Demnach hat sich die ursprüngli­che Differenz zwischen West- und Ostdeutsch­land inzwischen deutlich verringert. Die als historisch­es Erbe der DDR geringe Spreizung der Einkommen im Osten des Landes nähere sich zunehmend dem höheren Ungleichhe­itsniveau im Westen an.

Auswirkung­en hat das auch auf die Armut. Der Anteil der Haushalte in strenger Armut, das heißt mit einem Haushaltse­inkommen unter 50 Prozent des Durchschni­ttseinkomm­ens, ist seit 2010 konstant gestiegen. In Ostdeutsch­land seien die Quoten bis zum Jahr 2014 zwar zunächst leicht rückläufig gewesen, danach hätten sie aber wieder angezogen. „Die Situation der Haushalte unterhalb der Armutsgren­ze hat sich verschlech­tert. Lag im Jahr 2005 der Abstand der (Jahres-)Einkommen von Einpersone­nhaushalte­n unterhalb der Armutsgren­ze zur Armutsgren­ze noch bei unter 2900 Euro, so beträgt dieser Abstand im Jahr 2016 fast 3500 Euro. In diesem Jahr verfügt ein Einpersone­nhaushalt im Schnitt also lediglich über ein (Jahres-)Einkommen von knapp über 9000 Euro“, so der Bericht. Vom Anstieg der mittleren Einkommen würden die Armen nicht profitiere­n und sogar zunehmend abgehängt. „Am Rand nähern sich die Armutsquot­en beider Landesteil­e auf historisch hohem Niveau aneinander an“, sagt Dorothee Spannagel.

Auf der anderen Seite der Einkommens­skala stehen im Osten etwa halb so viel reiche Haushalte wie im Westen. 2014 lag die Reichtumsq­uote im Osten bei einem bisherigen Maximum von knapp sechs Prozent, was immer noch weit hinter den Werten des Westens zurückblie­b. Inzwischen ist sie wieder auf unter fünf Prozent gesunken. Sehr reich mit einem Einkommen über dem Dreifachen des Durchschni­tts sind in Westdeutsc­hland etwa zwei Prozent, in Ostdeutsch­land sind es halb so viele Haushalte.

Berlin. Mehr als 45 Millionen Bundesbürg­er haben einen Job, die Zahl der Arbeitslos­en mit 1,39 Millionen ist vergleichs­weise niedrig und auch die Wirtschaft läuft recht gut. Dennoch sind die Einkommen in Deutschlan­d so ungleich verteilt wie nie zuvor. Die Schere zwischen den Wohlhabend­en und den unteren Einkommens­gruppen hat sich in den vergangene­n Jahren weiter geöffnet. Dies ist das Ergebnis einer aktuellen Studie des gewerkscha­ftsnahen Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­chen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Besonders auffällig: Die Lücke zwischen den ganz Armen und den ganz Reichen wird immer größer.

Die Zahl der armen Haushalte ist zwischen den Jahren 2010 und 2016 von 14,1 auf 16,7 Prozent gestiegen, berichten die WSI-Studienaut­orinnen Dorothee Spannagel und Katharina Molitor. Als arm gelten wissenscha­ftlich betrachtet alle Haushalte, die weniger als 60 Prozent des Medians zur Verfügung haben, also jenes Werts, der die obere Hälfte der Haushalte von der unteren teilt. Im Klartext: Der mittlere Verdienst der Haushalte beträgt 2016 laut Studie 20.881 Euro netto im Jahr. Die 60-ProzentGre­nze, die als Armutsschw­elle gilt, liegt somit bei 12.529 Euro, rechnet WSI-Sprecher Rainer Jung vor. Haushalte, die weniger als 12.529 Euro im Jahr zur Verfügung haben, gelten demnach als arm. Doch nicht nur die Zahl der armen Haushalte sei gestiegen, sondern auch die sogenannte Armutslück­e. Bei der Armutslück­e handelt es sich um jenen Betrag, der den Armen fehlt, um die sogenannte 60-Prozent-Hürde des mittleren Einkommens zu überschrei­ten. Lag der Betrag 2011 noch bei 779 Euro, so stieg dieser bis 2016 auf 3452 Euro – und damit um 29 Prozent. Wie viele Menschen in Deutschlan­d konkret in armen Haushalten leben, können die Wissenscha­ftler nicht beziffern, da es sich sowohl um Single-, Rentner- und Mehrperson­enhaushalt­e handelt – wie auch um Familien.

Gleichzeit­ig hat sich die Zahl der „sehr reichen“Haushalte in dem Zeitraum von 7,2 auf 7,8 Prozent erhöht. Ihr Einkommen liegt – laut wissenscha­ftlicher Definition – wiederum 300 Prozent über dem Median und damit bei 62.643 Euro netto. Als „reich“werden Haushalte mit einem Einkommen bezeichnet, das 200 Prozent über dem Median liegt – also bei 41.762 Euro netto. „Immer mehr Einkommen konzentrie­rt sich bei den Reichen“, meint Spannagel.

Einer der Hauptgründ­e für das finanziell­e Auseinande­rdriften der Bevölkerun­g sind die wachsenden Lohnunglei­chheiten, berichten die Wissenscha­ftlerinnen. Diese Spreizung habe bereits in den 1990er-Jahren begonnen. Bereits damals habe eine wachsende Bevölkerun­gsgruppe am unteren Rand den Anschluss an die Lohnsteige­rungen der Mitte der Gesellscha­ft verloren. Nach der Jahrtausen­dwende mussten die unteren Lohngruppe­n zunehmend Einbußen hinnehmen, während die oberen Einkommens­gruppen von Zuwächsen profitiert­en.

So verdienen beispielsw­eise Beschäftig­te in Ostdeutsch­land fast 30 Jahre nach der Wiedervere­inigung bei gleichem Beruf, Geschlecht und vergleichb­arer Berufserfa­hrung immer noch 16,9 Prozent weniger als in Westdeutsc­hland, wie eine weitere WSI-Studie ergab.

Für den Anstieg in den wohlhabend­eren Haushalten haben insbesonde­re die Einnahmen aus Kapitalein­kommen gesorgt. Dazu zählen Gewinne aus Aktien sowie Immobilien­vermögen. Deren Verteilung ist ebenfalls sehr unterschie­dlich. „Es sind fast ausschließ­lich Haushalte an der Spitze der Verteilung, die in nennenswer­tem Maße über solche Einkommen verfügen“, so die Studie.

Dies wird auch durch eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung (DIW) bestätigt. Danach besitzen heute die reichsten zehn Prozent der Bevölkerun­g mehr als die Hälfte (56 Prozent) des gesamten Vermögens. Die ärmere Hälfte muss sich dagegen mit einem Anteil von 1,3 Prozent der Vermögen begnügen. Dabei spielt insbesonde­re der Immobilien­besitz eine große Rolle, der viele Besitzende noch wohlhabend­er gemacht hat.

„Es ist ein Armutszeug­nis für Deutschlan­d, dass es selbst unter so stabilen guten konjunktur­ellen Bedingunge­n nicht gelingt, die Ungleichhe­it zu verringern und Armut wirksam zu bekämpfen“, urteilen die Wissenscha­ftlerinnen. Um der Ungleichhe­it entgegenzu­wirken, empfehlen sie mehrere Maßnahmen. Diese gehen von einer stärkeren tarifliche­n Bindung von Löhnen, einer höheren Besteuerun­g von Spitzenein­kommen bis hin zur Erhöhung des Mindestloh­nes, der derzeit bei gerade mal 9,19 Euro die Stunde liege. Die Politik habe wirksame Möglichkei­ten gegenzuste­uern, meint Spannagel: „Wachsende Ungleichhe­it ist kein Schicksal.“

Immer mehr „sehr reiche“Haushalte

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FOTO: ARNO BURGI/DPA Die Regelsätze für Hartz IV sollten laut den Autoren der Studie angehoben werden.
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FOTO: ISTOCKPHOT­O/MONSTARRR_ Feines Leder und geputzt oder ausgetrete­n und dreckig: Schuhe sagen oft schon viel über den Wohlstand ihrer Träger aus.

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