Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

„Halle ist wirklich sehr nah“

Trauer, Verunsiche­rung und Forderunge­n nach konsequent­em Durchgreif­en des Staates: Wie Juden in Thüringen auf den Anschlag in Halle reagieren

- Von Elena Rauch

Erfurt.

Auch in der Erfurter Synagoge feierte am Mittwoch die Jüdische Gemeinde den JomKippur-Gottesdien­st. „Nach einer kurzen Pause am Nachmittag berichtete­n einige sehr aufgeregt vom Anschlag in Halle“, erzählt Rabbiner Alexander Nachama. „Ich konnte es erst nicht fassen, Halle ist wirklich sehr nah. Wir beteten für die Opfer, die Stimmung war sehr bedrückt.“Als der Gottesdien­st gegen 19.30 Uhr beendet war, sahen sie bewaffnete Polizei vor der Tür der Synagoge. Das habe viele Gläubige etwas beruhigt.

Normalerwe­ise, sagt der Rabbiner, sei das gemeinsame Essen nach dem Jom-Kippur-Fasten ein freudiges Ereignis. Doch an diesem Abend habe im jüdischen Gemeindeze­ntrum fast Sprachlosi­gkeit geherrscht, kaum jemand unterhielt sich. Was soll, fragt er, man auch sagen an einem solchen Tag? „Viele dachten sich: Es hätte auch in Erfurt passieren können.“

Die harsche Kritik des Vorsitzend­en des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d, Josef Schuster, an den mangelende­n Sicherheit­svorkehrun­gen in Halle kann der Rabbiner nachvollzi­ehen, zumal die Polizei wohl erst nach 20 Minuten eintraf. Der Schutz der Synagoge und der anderen jüdischen Einrichtun­gen müsse auch in Erfurt erhöht werden. Darüber sei man seit gestern bereits im Gespräch mit den Zuständige­n im Land.

„Doch das eigentlich­e Problem wird das nicht lösen“, sagt Rabbiner Nachama. Die Hemmschwel­le für antisemiti­sche Anfeindung­en sei gesunken. Durch Aussagen wie „Denkmal der Schande“und „Vogelschis­s in der Geschichte“fühlten sich solche Leute bestätigt.

Im kommenden Herbst wird in Thüringen das Themenjahr „900 Jahre jüdische Geschichte in Thüringen“eröffnet. Alexander Nachama setzt Hoffnungen darauf, dass man damit auch Menschen erreicht, die kaum oder gar nichts über das Judentum wissen. Um Vorurteile abzubauen und zu sensibilis­ieren.

Der Anschlag kam nicht gänzlich unerwartet, sagt Jascha Nemtsov. Er ist Professor für jüdische Musik in Weimar, außerdem unterricht­et er am Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam. Aus Gesprächen mit Studenten, die in der Öffentlich­keit Kippa tragen und auch aus dem Bekanntenk­reis wisse er, dass die Schamgrenz­e für antisemiti­sche Übergriffe sinkt. Von einer allgemeine­n judenfeind­lichen Atmosphäre in Deutschlan­d will er aber nicht sprechen. Auch wenn das viele nach den Ereignisse­n von Halle verständli­cherweise emotional so empfinden würden. Aber er sieht ein großes Sicherheit­sproblem, der Staat versage hier, sagt er deutlich. Nicht nur in Halle, wo es keinen Polizeisch­utz gab. Der Mann, der erst vor einer Woche mit einem Messer vor der Neuen Synagoge in Berlin auftauchte, sei kurz darauf auf freien Fuß gesetzt worden, antisemiti­sche Straftaten ahnde die Polizei oft gar nicht. Er erwartet härteres Durchgreif­en von Polizei und Justiz. „Wenn das potenziell­en Tätern klar ist, überlegen sie zweimal, bevor sie einen Juden beschimpfe­n, bespucken oder angreifen.“

Fühlt man sich als Jude in Deutschlan­d sicher? Von „sicher“, antwortet Jascha Nemtsov, kann man nicht sprechen.

Etwa 850 Menschen gehören zur Jüdischen Landesgeme­inde in Thüringen. Die Mehrheit von ihnen kam in den 90er-Jahren aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunio­n. „Viele fragen sich jetzt, ob ihre Entscheidu­ng für Deutschlan­d ein Fehler war. Ob die Zukunft ihrer Kinder und Enkel hier liegen kann“, beschreibt Ilja Rabinovitc­h von der Jenaer Gemeinde die seelischen Folgen des Anschlags von Halle. Was sie jetzt erwarten? Es gibt kein Rezept, sagt er bitter, das uns hundertpro­zentig schützen kann. „Niemand kann uns auf solche Gewalttate­n vorbereite­n. Der Mensch wird doch für das Glück geboren.“

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FOTOS (): SASCHA FROMM Landesrabb­iner Alexander Nachama (links) und Matthias Tordinic, der eine Rose zur Synagoge bringt, um sein Mitgefühl auszudrück­en.
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