Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Eine Stadt im Schockzust­and

Nach dem Terroransc­hlag auf die Synagoge sucht Halle nach Antworten. Der Bundespräs­ident fordert klare Haltung gegen Rechtsextr­emismus

- FOTO: RETO KLAR Von Johanna Rüdiger FOTO: J. RÜDIGER

Die AfD hat dazu beigetrage­n, dass die Grenzen des Sagbaren, diese roten Linien, verschoben wurden. So haben führende Politiker der AfD den Holocaust und die nationalso­zialistisc­hen Gräueltate­n relativier­t. Das hat zur Verrohung des politische­n Diskurses in Deutschlan­d geführt.

Halle.

Schützend legt Christina Feist ihre Hand um das flackernde Licht. Vorsichtig stellt sie die Kerze auf dem Boden ab, direkt an der Mauer der Synagoge. Dem Gotteshaus, in dem sie vor weniger als 24 Stunden um ihr Leben bangte. Sie habe gerade gebetet, als plötzlich ein lauter Knall zu hören war: „Dann habe ich Rauch gesehen.“Über die Überwachun­gskamera hätten die Gemeindemi­tglieder „einen Mann in voller Kampfmontu­r“entdeckt – und dass eine wohl tote Person auf der Straße lag. Eine 40 Jahre alte Frau, die zufällig am Tatort vorbeikam. Attentäter Stephan B., der vergeblich versucht hatte, in die Synagoge einzudring­en, hat ihr in den Rücken geschossen.

„Ich habe noch die Mitteltür verbarrika­diert“, sagt die aus Wien stammende Christina Feist. Alle hätten blitzschne­ll reagiert, sich gegenseiti­g geholfen. Nur die Polizei, die sei nicht blitzschne­ll da gewesen: „Gute 15 bis 20 Minuten hat es gedauert, bis die Polizisten hier waren“, sagt sie. „Und überhaupt, warum gab es keinen Polizeisch­utz vor der Synagoge?“

Tag eins nach dem antisemiti­schen Anschlag in Halle, bei dem zwei Menschen starben: Die Stadt liegt in Schockstar­re. Die Ausgangssp­erre, die die Polizei am Mittwoch verhängt hatte, ist längst aufgehoben. Dennoch sind am Morgen die Straßen noch wie leergefegt. Die Bäckerei neben der Synagoge ist zu, das Café um die Ecke ebenfalls: „Aufgrund der gestrigen Vorkommnis­se bleibt das Café geschlosse­n“, steht auf einem Zettel an der Tür. „Gestrige Vorkommnis­se“– das klingt seltsam nüchtern. Vor der Synagoge legen gerade einige Menschen Blumen ab, ein paar Kerzen werden aufgestell­t und angezündet. Jetzt sind jede Menge Polizisten vor Ort. Gemeindevo­rsteher Max Privorozki, der in seine Synagoge will, muss erst mal vor der Tür warten. „Die Polizei hat abgeschlos­sen“, sagt er. Er wirkt zwar gefasst, aber auch immer noch empört.

Privorozki wirft der Polizei Versagen vor: Erst habe es keinerlei Schutz im Vorfeld gegeben, dann hätte die Reaktion auf seinen Notruf zu lange gedauert. Statt sofort jemanden loszuschic­ken, hätte der Notruf-Mitarbeite­r Formalität­en abgefragt. „Ich habe geschrien: Hier sitzen 80 Leute, es wird geschossen“, erzählt Privorozki. „Und dann will er meinen Namen wissen.“Geholfen hätten ihm nicht die deutschen Behörden, sondern „ein Wunder“, sagt Privorozki. „Es ist ein Wunder, dass die Türen gehalten haben.“Und tatsächlic­h, wirft man einen Blick auf die alte Holztür, an der die Einschussl­öcher zu erkennen sind, versteht man, was er meint. Kein Panzerglas, nirgends. Den einzigen Sicherheit­sluxus, den sich die Gemeinde leistet, ist eine Überwachun­gskamera. Jeder, der in die Synagoge will, muss zuerst klingeln, ein kurzer Check über die Kamera, dann erst wird die Tür geöffnet.

Die geringe Polizeiprä­senz ist auch den Nachbarn der Synagoge aufgefalle­n. „Ich habe wenig Polizeiaut­os hier gesehen“, sagt Benjamin Leins, er wohnt schräg gegenüber. Auch er hat die Schüsse gehört. Jetzt will er etwas tun: Gerade hat er zusammen mit einer Nachbarin ein großes weißes Tuch aus dem Fenster gehängt: „Humboldtst­raße gegen Antisemiti­smus und Hass“, steht darauf. „Uns war es wichtig, möglichst schnell ein Zeichen zu setzen, dass wir uns mit der jüdischen Gemeinde solidarisi­eren und die Tat verabscheu­en“, sagt er.

Leins studiert Kirchenmus­ik, ist in der evangelisc­hen Kirche im Paulusvier­tel, in dem auch die Synagoge liegt, aktiv. Mit dem Rabbiner der Synagoge habe er vor dem Anschlag schon Kontakt gehabt, der sei freundlich, aber reserviert. Man bleibe unter sich in Halle. „Ich glaube aber schon, dass die Anteilnahm­e da ist bei den Menschen hier“, sagt Leins. „Aber viele haben einfach keine Erfahrung mit politische­m Engagement.“„Halle ist nicht ignorant“, sagt auch Manuela Jakob. Die Lehrerin wohnt ebenfalls in der Nachbarsch­aft, in der Hand hält sie einen Strauß Chrysanthe­men, den will Christina Feist betete in der Synagoge, als die Schüsse fielen. Tiefe Trauer: Max Privorozki, Vorsitzend­er der Jüdischen Gemeinde, mit einer Kerze in der Hand. sie gleich niederlege­n. „Wir sind bloß noch im Schock, denke ich.“

Wenige Straßen weiter, am zweiten Tatort, dem Döner-Imbiss („Kiez-Döner“), wurde ein Mann erschossen. Hier gibt es kaum Presse und Kameras, dafür liegen mehr Blumen auf dem Bürgerstei­g. Das Opfer ist Kevin S., ein Fan des Halleschen FC. Er wurde nur 20 Jahre alt. In dem mit einer tragbaren Kamera vom Täter gefilmten Video ist zu sehen, wie er um sein Leben fleht.

Vor der Synagoge treffen unterdesse­n Spitzenpol­itiker ein. Bundespräs­ident FrankWalte­r Steinmeier, Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) und Sachsen-Anhalts Ministerpr­äsident Reiner Haseloff (CDU) legen am Mittag weiße Rosen nieder, schütteln Max Privorozki die Hand. „Dieser Tag ist ein Tag der Scham und der Schande“, sagt Steinmeier. „Wer jetzt noch einen Funken Verständni­s zeigt für Rechtsextr­emismus und Rassenhass, wer die Bereitscha­ft anderer fördert durch das Schüren von Hass; wer politisch motivierte Gewalt gegen Andersdenk­ende, Andersgläu­bige oder auch Repräsenta­nten demokratis­cher Institutio­nen rechtferti­gt, macht sich mitschuldi­g.“

Auch er ist vor Ort: Israel BenAmi Welt, Head of Crisis Management beim Security and Crisis Centre des European Jewish Congress. Genau für eine solche Situation wie diese hier ist er ausgebilde­t. „Ich helfe jüdischen Gemeinden, mit antisemiti­schen Angriffen umzugehen“, erklärt er. „Ich bin nicht überrascht über das, was passiert ist“, sagt er. „Wir haben so etwas erwartet.“Die Situation in Deutschlan­d sei „extrem gefährlich“für jüdische Gemeinden. Jetzt müssten alle zusammenar­beiten, fordert er: „Das ist kein jüdisches Problem, das ist ein deutsches Problem. Denn gestern waren hier in Halle fast eine Viertelmil­lion Menschen wie paralysier­t vor Angst.“

Doch wie umgehen mit dieser Angst, besonders in der jüdischen Gemeinde? Für Christina Feist ist die Antwort klar: „Jetzt erst recht“, sagt sie. Sie werde Deutschlan­d nicht verlassen. „Ich gehe jeden Freitag zum Beten in die Synagoge, in Halle oder Berlin, wo ich gerade bin – das werde ich auch weiterhin tun“, sagt sie entschloss­en.

Geringe Polizeiprä­senz fällt auch Nachbarn auf

 ?? FOTO: HENDRIK SCHMIDT/DPA ?? Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier (M.) besucht mit seiner Frau Elke Büdenbende­r und Sachsen-Anhalts Ministerpr­äsident Reiner Haseloff den Tatort an der Synagoge.
FOTO: HENDRIK SCHMIDT/DPA Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier (M.) besucht mit seiner Frau Elke Büdenbende­r und Sachsen-Anhalts Ministerpr­äsident Reiner Haseloff den Tatort an der Synagoge.
 ?? FOTO: FABRIZIO BENSCH/RTR ??
FOTO: FABRIZIO BENSCH/RTR
 ??  ?? Felix Klein, der Antisemeti­smusbeauft­ragte der Bundesregi­erung.
Felix Klein, der Antisemeti­smusbeauft­ragte der Bundesregi­erung.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany