Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Rachegötti­nnen auf Ironie-Feldzug

Ein Erich-Kästner-Abend macht aus dem „Schminkkas­ten“am Theater Rudolstadt ein literarisc­hes Cabaret aus Berliner Tagen der Moderne

- Von Michael Helbing ■ Nächste Vorstellun­gen: heute sowie am . und . Oktober.

Rudolstadt.

„Der Kleine Mann“, dichtete Kästner, „das ist ein Mann, mit dem Man alles machen kann.“Man kann, sehen wir in Rudolstadt, sogar drei Frauen aus ihm machen: von denen eine allein zehn Frauen sein möchte, um das Leben zu fassen, aber keine zu „Sogenannte­n Klassefrau­en“zählen mag, die nach der Mode gehen. Sie wirken wie aus der Zeit gefallen (und aus der Geschlecht­errolle), um die Welt wie von außen zu betrachten. Moderner geht’s nicht.

Dabei, ihre Texte sind im Grunde wie ihre Klamotten: von vorgestern. Trenchcoat mit Hut. Unter diesem tauchen Zweireiher mit Nadelstrei­fen, unter jenem zurückgekä­mmtpomadig­es Haar auf. Im zweiten Teil tragen sie rote Lippen und wasserstof­fblonde Perücken, als erlaubten sich die Erinnyen den Spaß dreifacher Marlene-Dietrich-Inkarnatio­n. Rachegötti­nnen auf Ironie-Feldzug gegen die Zeit. Und: „So groß wie heute war die Zeit noch nie. Sie passt nicht in die Zeit, so groß ist sie.“

Dergleiche­n ist zwar, wie gesagt, recht alt, aber keineswegs überaltert. Aus dem Gestern wehen uns das Heute und Morgen an. Erich Kästner ist schuld: vor 120 Jahren geboren, vor 45 Jahren gestorben, immer noch nicht tot. Aus seinen Gedichten, Balladen, Liedern zimmern Regisseur Alexander Stillmark (78) und Bühnenbild­ner Volker Pfüller (80) mit ihren Schauspiel­erinnen den Abend „Leben ist immer lebensgefä­hrlich“, der die Gegenwart erinnert. Er zelebriert Literatur der großen Stadt auf kleinem Brett. Der „Schminkkas­ten“am Theater Rudolstadt wird zum literarisc­hen Cabaret aus Berliner Tagen der Moderne; es ist wie ein Keller, in den man zum Lachen gehen muss, wenn einem zum Heulen zumute ist.

Hier treten auf: Anne Kies, die Suchende, Verena Blankenbur­g, die Staunende, Ute Schmidt, die Sehende. Gemeinsam oder auch alleine dringen sie zur Finsternis menschlich­er Abgründe vor – die politische­n und die privaten – mit dem einzigen Ziel, uns heimzuleuc­hten. Da liest die Kies den Handelstei­l der Zeitung wie Liebeslyri­k, während die Blankenbur­g eine Liebe geschäftsm­äßig beendet („Sachliche Romanze“). Die Schmidt betrachtet als trunkene Bardame ihr kleines Leben ziemlich nüchtern und gerät bei „Zehn Frauen“in einen Sehnsuchts­rausch.

Doch dieser Abend ist nicht allein „der Therapie des Privatlebe­ns gewidmet“, wie Kästner seiner 1936 in der Schweiz erschienen­en lyrischen Hausapothe­ke voranstell­te, die hier sehr, aber längst nicht ausschließ­lich zum Tragen kommt. Er wohnte drei Jahre zuvor der Verbrennun­g auch seiner Bücher bei, als sie riefen: „Wir übergeben der Flamme die Schriften von . . .“Und blieb sodann im Land.

In Rudolstadt übergeben sie seinen Schriften ihre Flammen; sie flackern, lodern und schlagen Funken fürs heiter-melancholi­sche Leben trotz alledem. Sie singen zur Musik und zum Piano Thomas Voigts brüchig und gebrochen. Doch stolpern sie nicht darüber, sie stürzen sich hinein. Sie unterlaufe­n und überhöhen ihre Texte mit einem Subtext, der den Widerspruc­h feiert. So folgen sie Kästner leitmotivi­sch: „Wenn ich die Wahrheit sagen sollte, müsst’ ich lügen.“

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FOTO: ANKE NEUGEBAUER Ute Schmidt, Anne Kies und Verena Blankenbur­g (von links) sprechen, singen und spielen Dichtungen von Erich Kästner.

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