Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
Demut vor der Natur der Dinge
Lindenau-Museum Altenburg zeigt den Gerhard-Altenbourg-Preisträger Herman de Vries mit seinem bemerkenswerten OEuvre
Die letzte Ausstellung im Altenburger Lindenau-Museum wird nochmals eine werden, über die deren Besucher sprechen werden – beeindruckend, ungewöhnlich, überraschend, wie ihr Schöpfer. Ab Sonntag ist sie dem diesjährigen GerhardAltenbourg-Preisträger gewidmet: dem 1931 im niederländischen Alkmaar geborenen Herman de Vries.
Diese Ausstellung ist somit nicht nur die letzte in diesem Jahr, sondern auch die letzte vor der mehrjährigen Sanierung des Lindenau-Museums ab dem 2. Januar 2020. Während das „alte Haus“dann saniert, ertüchtigt, neukonzipiert und erweitert wird, begeben sich Sammlungen und Mitarbeiter in ein Interim in Altenburg, das im Frühsommer 2020 mit einer kleinen Dauerausstellung eröffnet wird.
Doch zunächst kommt der 88-jährige Herman de Vries, der als elfter Künstler mit Thüringens bedeutendstem, mit 50.000 Euro dotierten Kunstpreis ausgezeichnet wird. Alle zwei Jahre wird diese Auszeichnung verliehen und damit ein Künstler geehrt, der einen besonderen Bezug zum Namensgeber Gerhard Altenbourg (1926-1989) hat. Neben der Beziehung zur Natur seien das etwa das enzyklopädische Arbeiten und die intensive Auseinandersetzung mit Wörtern, die beide verbindet und letztlich die Wahl auf de Vries fallen ließ, erläutert Museumsdirektor Roland Krischke.
Wer die neue Ausstellung betritt, steht zunächst vor einer großen Wand mit einem drei Meter breiten Papierbild, auf das der Künstler tausendfach mit Buntstiften das Wort „all“geschrieben hat. Eine radikal abstrakte Konzeption von Sprache, reduziert auf eine formale Anordnung von Buchstaben. Bisweilen verbindet er sie zu verdichteten Formeln, die uns an etwas erinnern sollen.
Schon hier im Eingangsbereich kündet ein eindringlich-süßlicher Duft vom bevorstehenden AhaErlebnis, das sich hinter der Wand bietet. Dort wurde in der Mitte des Raumes im Durchmesser von 4,50 Metern ein Kreis aus „108 Pfund getrockneter Rosenblüten“ausgebreitet. Diese kleinen zartrosa Knospen der Rosa damascena mit ihrem schweren betörenden Duft zeigen, wie Herman de Vries, der ursprünglich aus der naturwissenschaftlichen Forschung kommt, die Natur in die Ausstellungsräume holt.
In den 1950er-Jahren fand Herman de Vries über die informelle Malerei zur Kunst, gehörte in den 1960er-Jahren zum Umfeld der internationalen Zero-Bewegung und arbeitete an „weißen Bildern“, die im hinteren Teil der Ausstellung zu sehen sind. Darin zeigt er nicht nur verschiedene Facetten von Weiß, sondern experimentiert mit Oberflächengestaltung, um Wirkung zu erzielen. In anderen frühen konzeptionellen Arbeiten ergründet de Vries das Phänomen des Zufalls, indem er mittels mathematischer Zufallssysteme künstlerische Handlungen steuert. Schließlich findet er zum Spannungsfeld zwischen Natur und Kunst, die sich seither wie ein roter Faden durch sein OEuvre zieht. Immer wieder betont er in seinen Schriften, die Totalität der Natur, der der Mensch eigentlich nichts hinzufügen kann. Folgerichtig beschwört auch sein eigenes Werk zunächst die Demut vor der natürlichen Individualität aller Dinge.
Seit 1970 lebt de Vries, der sich gern nackt im Freien bewegt, zurückgezogen im unterfränkischen Eschenau, wenn er nicht gerade die entlegensten Orte der Welt – Indien, die Seychellen, Laos oder Afghanistan – bereiste. Auf seinen ausgedehnten Streifzügen sammelt er Naturalien, die er zuhause archiviert, katalogisiert und, ohne ihr Aussehen zu verändern, zu Bildern erhebt. Sie spiegeln seine intensive Beschäftigung mit der Natur: Skulpturen aus Knochen, Holz und Steinen, Arbeiten mit Muscheln, Stöcke, Blätter, und gepressten Pflanzen sowie Bilder mit Blut oder Erdeausreibungen auf Papier.
Die Parallelen zu Gerhard Altenburgs sind frappierend: Immer wieder zog es den Altenburger zu seiner geliebten Hellwiese mit dem Pappelsaum neben dem Großen Teich. Regelmäßig verließ er die Stadt in Richtung Altendorf, um zu den Paditzer Schanzen, einem ehemaligen Steinbruch, zu gelangen. Von seinen Streifzügen brachte er häufig Steine mit nach Hause. Auch so de Vries. Bei einem Streifzug auf Altenbourgs Spuren zu eben jenem Steinbruch, den der Künstler im Mai 2019 unternahm, waren es etwa rötliche, glitzernde Steine aus Glimmerporphyr, die seine Aufmerksamkeit erregten und wiederum Eingang in diese Ausstellung fanden.
Doch die Wechselwirkung von Natur und Kunst strahlt auch in den öffentlichen Raum zurück, und der Ausstellungsraum im Lindenau-Museum wird in den angrenzenden Park sowie einen alten Steinbruch mit Installationen erweitert, erklärt die wissenschaftlichen Volontärin und Kuratorin Laura Rosengarten.
„all all all, werke 1957–2019“ist die Schau mit 110 Arbeiten aus dem Privatbesitz von de Vries und seiner Frau überschrieben, die am Sonntag startet und die sieben Jahrzehnte eines bemerkenswerten OEuvre durchstreift.