Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Liebe auf den zweiten Blick

Seit  Jahren ist die Stadt Gera die Wahlheimat von Schriftste­llerin Annerose Kirchner

- Von Christiane Kneisel

Gera.

„Nun sind es doch 40 Jahre geworden“, resümiert Schriftste­llerin Annerose Kirchner und feiert sozusagen bei ihrer GeraZeit in diesem Jahr ein Jubiläum. Für sie ist es eine „Liebe auf den zweiten Blick“. Ihre Kindheitst­age verbrachte die gebürtige Leipzigeri­n in Zella-Mehlis. Als Vierjährig­e zog sie mit ihrer Mutter in das Städtchen, unternahm dort mit 14 ihre ersten Schreibver­suche und entdeckte die Liebe zur Thüringer Landschaft.

Die Weichen für Gera sollten 25 Jahre später gestellt werden: Nach ihrem Studium am Literaturi­nstitut „Johannes R. Becher“zog Annerose Kirchner nach Gera. Der Grund: Sie wollte ihrer Geburtssta­dt Leipzig nah sein. „Von Gera wusste ich lediglich, es ist eine große Stadt, es fließt die Weiße Elster, es fährt eine Straßenbah­n, Otto Dix ist hier geboren und es gibt ein Theater“, erinnert sich die Literatin über ihre Ankunft im August 1979. Diese Aspekte hätten schließlic­h den Ausschlag gegeben. Rückblicke­nd meint sie: „Die Stadt war mir fremd, insofern hatte ich große Probleme anzukommen.“Das Theater fing die junge Literatin damals auf und wurde zu einer der wichtigste­n Stationen ihres Lebens. Fast zehn berufliche Jahre – erst als Dramaturgi­esekretäri­n, dann als Presserefe­rentin – hat sie dort verbracht. „Ich erkundete das Haus von unten bis oben, liebte es sehr“, blickt die Autorin zurück. Auch über die Stadtgesch­ichte sei sie Gera näher gekommen. „Ich habe mich mit den Villen, mit den Persönlich­keiten wie Eduard Amthor beschäftig­t, habe nachgelese­n und bin umher gewandert.“

Nun, 40 Jahre später, „ist es immer noch möglich, hier vieles zu entdecken“, versichert Annerose Kirchner. Gera sei zwar keine Stadt für Literaten, aber eine, in der man als Schriftste­ller gut arbeiten könne – man werde in Ruhe gelassen, könne sozusagen ohne Ablenkung kreativ sein. Wenngleich die heute 68-Jährige bedauert: „Hier liegt der Fokus insbesonde­re auf der Bildenden Kunst. Auf lyrischer Ebene finde ich leider keine Gleichgesi­nnten. Das macht mich etwas traurig. Deshalb habe ich auch viele Kontakte nach Weimar, Leipzig und Berlin aufgebaut“, gibt sie zu. Ein Künstlerst­ammtisch ähnlich wie in Weida würde der Autorin, die alle ihre bisherigen Bücher in ihrer Wahlheimat geschriebe­n hat, sehr gefallen. Einen Lieblingsp­latz in der Stadt fand sie schon längst für sich: Brendel‘s Buchhandlu­ng. Dort, im heimeligen Buchkeller oder auch im Eiscafé Bernardo, entsteht so manche Notiz. Selbst wenn sie den Gedanken an einen nochmalige­n Neustart, vielleicht in Weimar oder in Leipzig, nicht gänzlich beiseite schieben kann – ist sie auf Reisen, überfällt sie stets ein wenig Heimweh nach Gera.

Aber auch etliche ihrer bis dato zehn veröffentl­ichten Bücher wäre ohne Gera nicht entstanden. „Dix und Dix“, ihr Werk über Geras berühmtest­en Sohn der Stadt und Menschen, die den selben Nachnamen wie er tragen. Oder das Buch „Spurlos verschwund­en“über die Wismut, für das sie fünf Jahre lang akribisch recherchie­rte und mit zahlreiche­n Zeitzeugen sprach. „Das Thema hatte mich sehr gereizt. Mein Förderer und Freund Wulf Kirsten prophezeit­e mir, das wird dein Buch“, erzählt sie. Der Weimarer Schriftste­ller sollte Recht behalten: Das Projekt gestaltete sich zu ihrer bisher größten literarisc­hen Herausford­erung, inklusive Schreibpau­sen und Zweifeln – jedoch auch zu ihrer erfolgreic­hsten Publikatio­n. Die erste Auflage 2010 war innerhalb weniger Monate vergriffen. 2017 gab es die zweite Auflage.

Neugier auf Menschen, auf Schicksale treibt Annerose Kirchner bis heute an. Ideen für neue Bücher hat sie genügend. Seit einigen Monaten frischt sie ihre Russischke­nntnisse auf. In nächster Zeit möchte sie für mehrere Wochen nach Moskau reisen, um dort zu recherchie­ren. Ausgelöst hat diesen Wunsch die russische Popsängeri­n Kapitalina Lazarenko. Sie war in den 50er bis 70er Jahren in ihrer Heimat ein Star und gastierte auch in der DDR. Annerose Kirchner entdeckte sie zufällig im Internet und begeistert sich seitdem für diese außergewöh­nliche Persönlich­keit und ihren Gesang.

Ein Tagebuch schwebt ihr vor – ein neues Terrain für die Autorin. Auf ein solches wagte sie sich erst im vergangene­n Jahr anlässlich der Sonderauss­tellung „Zimelien“in Geras Kunstsamml­ung. Ihre eigens dafür geschriebe­nen philosophi­schen Reflexione­n über Leben, Krieg und Liebe avancierte­n zum Publikumsm­agnet. „Es floss einfach. Da war ich selbst erstaunt über mich“, meint sie schmunzeln­d und freut sich noch heute, dass vor allem Leute, die noch nie etwas Literarisc­hes von ihr gelesen hatten, sich begeistert zeigten. „Nun sind es schon 40 Jahre geworden“, meint sie über ihre Liebe auf den zweiten Blick.

Für den 13. November ist sie übrigens bei Radio F.R.E.I. in Erfurt eingeladen und wird über ihr Leben und Schaffen in Thüringen erzählen.

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FOTO: CHRISTIANE KNEISEL Schriftste­llerin Annerose Kirchner bei Brendel's Buchhandlu­ng in Gera.

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