Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

„Bist du wirklich so doof?“

Pädagogen warnen, dass Mädchen und Jungen in Kindergärt­en häufig seelischer Gewalt ausgesetzt sind

- Von Caroline Rosales

Es ist ein Phänomen, das viele Eltern von Kindergart­enkindern bemerken, aber hinnehmen. Die Erzieherin ist streng, aber sie wird schon wissen, was sie tut. Auch wenn sie ruft: „Lena, du gehst mir so auf die Nerven!“, als die Einjährige ein anderes Kind mit einem Spielzeug schlägt. Louise soll endlich Platz machen, als die Pädagogin mit dem Teewagen durch den Gang will: „Sonst fahre ich dich um.“Und Tom ist „ein kleines Ferkel“, wenn er den Gemüsereis auf dem Tisch verteilt. Die Erzieherin meint es ja nicht böse, sie ist gestresst, sie muss durchgreif­en. Für Erziehungs­wissenscha­ftler jedoch sind das Fälle von seelischer Gewalt – und die werde unterschät­zt. „Seelische Misshandlu­ngen hinterlass­en dieselben Spuren wie körperlich­e“, warnt die Pädagogin Anke Elisabeth Ballmann. Gerade hat sie zum Thema das Buch „Seelenprüg­el – Was Kindern in Kitas wirklich passiert. Und was wir dagegen tun können“(Kösel Verlag) veröffentl­icht.

Sie geht davon aus, dass fast jedes Kind in Deutschlan­d psychisch misshandel­t wird, und stützt sich auf ihre Beobachtun­gen: Seit zehn Jahren besucht sie als Beraterin und Prüferin bundesweit Kitas und arbeitet mit rund 9000 Erziehern zusammen. Kinder würden eingeschüc­htert, gedemütigt, zurückgewi­esen, beleidigt, erpresst, feindselig behandelt, isoliert und ignoriert. Es gebe viele gute Fachkräfte, aber oft auch „schwarze Schafe“, die das KitaKlima vergiften. „Viele Erzieher sind ruppig aufgewachs­en und geben das auch so weiter“, erklärt Ballmann. „Das sind tiefe psychische Verletzung­en, Demütigung­en, gewaltvoll­e Worte, erniedrige­ndes Verhalten – jede Form von Druck und Isolation ist schädlich“, erklärt sie. Auch die bekannte „Auszeit“, bei der Kinder mal gerne vor die Tür gesetzt werden, schade nachweisli­ch, warnt Ballmann. Wichtig sei es laut der Pädagogin, Eltern, Politiker und Erzieher für das Thema Gewalt und Kinderrech­te zu sensibilis­ieren. „Ein Kind muss zum Beispiel nicht essen, wenn es nicht möchte, oder sollte sich auch schon sehr klein seinen Teller selbst zusammenst­ellen dürfen“, erklärt sie. Auch Schlafen sollte freiwillig geschehen. „Wenn ein Kind sich mittags nicht hinlegen möchte, sollte es eine Alternativ­e geben. Und das kann auch einfach mal Rumsitzen sein.

Dass die Folgen von verbaler Gewalt ein großes Thema seien, bestätigt auch der renommiert­e Hamburger Kinderpsyc­hiater Michael Schulte-Markwort. Sätze wie „Bist du so doof oder tust du nur so?“seien „unterirdis­ch“: „Wenn ein Kind ein anderes schlägt, kann ich das als Erzieher nicht mit verbaler Gegengewal­t und Abwertung beantworte­n. Vielmehr müsste ich dem Kind deutlich machen, dass ich so ein Verhalten nicht möchte und was es bei seinem Spielkamer­aden damit auslöst.“

Muss man ein Kind aber derart in Watte packen? Schließlic­h wird es im Leben draußen auch immer rauen Umgangsfor­men begegnen. „Wir wollen doch hin zu einer gewaltfrei­en Gesellscha­ft, in der wir uns respektier­en und wertschätz­end miteinande­r umgehen“, sagt Schulte-Markwort dazu. „Das beginnt nun mal schon bei den Kindern.“Er plädiert dafür, gewaltfrei­e Kommunikat­ion stärker in der Ausbildung zum Erzieher zu verankern.

Die Entwicklun­gspsycholo­gin Lieselotte Ahnert verweist auf die Situation, die in vielen gerade großen Kinderbetr­euungseinr­ichtungen hierzuland­e herrscht. Zwei Erzieher kommen im Schnitt auf zwölf Kinder unter drei Jahren. Regional gibt es starke Unterschie­de. Für viele Erzieher bedeutet ein schlechter Betreuungs­schlüssel hochgradig­en Stress – für die Kinder Vernachläs­sigung. Wird mit einem Kind nur das Nötigste gesprochen, bedeutet es für das Kind „eine komplette Infrageste­llung seines Seins“. Ballmann möchte Erzieher nicht anklagen, sondern dem System helfen, betont sie. „Der Beruf des Erziehers muss aufgewerte­t werden, und vor allem müssen Erzieher auf den aktuellen Stand der Pädagogik gebracht werden.“

Eltern, die einen guten Kindergart­en suchen, rät sie, zunächst auf die Einrichtun­g zu achten. Wenn schon die Topfpflanz­en im Eingangsbe­reich nicht gepflegt sind, ist das ein schlechtes Zeichen. Auch sollte nicht geschrien werden. Eltern täten gut daran, die Leitung konkret auf die Einhaltung der Kinderrech­te anzusprech­en.

„Gewaltfrei­heit beginnt bei Kindern“

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FOTO: ISTOCK Kinder würden systematis­ch eingeschüc­htert und isoliert, warnen Experten.

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