Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
„Bist du wirklich so doof?“
Pädagogen warnen, dass Mädchen und Jungen in Kindergärten häufig seelischer Gewalt ausgesetzt sind
Es ist ein Phänomen, das viele Eltern von Kindergartenkindern bemerken, aber hinnehmen. Die Erzieherin ist streng, aber sie wird schon wissen, was sie tut. Auch wenn sie ruft: „Lena, du gehst mir so auf die Nerven!“, als die Einjährige ein anderes Kind mit einem Spielzeug schlägt. Louise soll endlich Platz machen, als die Pädagogin mit dem Teewagen durch den Gang will: „Sonst fahre ich dich um.“Und Tom ist „ein kleines Ferkel“, wenn er den Gemüsereis auf dem Tisch verteilt. Die Erzieherin meint es ja nicht böse, sie ist gestresst, sie muss durchgreifen. Für Erziehungswissenschaftler jedoch sind das Fälle von seelischer Gewalt – und die werde unterschätzt. „Seelische Misshandlungen hinterlassen dieselben Spuren wie körperliche“, warnt die Pädagogin Anke Elisabeth Ballmann. Gerade hat sie zum Thema das Buch „Seelenprügel – Was Kindern in Kitas wirklich passiert. Und was wir dagegen tun können“(Kösel Verlag) veröffentlicht.
Sie geht davon aus, dass fast jedes Kind in Deutschland psychisch misshandelt wird, und stützt sich auf ihre Beobachtungen: Seit zehn Jahren besucht sie als Beraterin und Prüferin bundesweit Kitas und arbeitet mit rund 9000 Erziehern zusammen. Kinder würden eingeschüchtert, gedemütigt, zurückgewiesen, beleidigt, erpresst, feindselig behandelt, isoliert und ignoriert. Es gebe viele gute Fachkräfte, aber oft auch „schwarze Schafe“, die das KitaKlima vergiften. „Viele Erzieher sind ruppig aufgewachsen und geben das auch so weiter“, erklärt Ballmann. „Das sind tiefe psychische Verletzungen, Demütigungen, gewaltvolle Worte, erniedrigendes Verhalten – jede Form von Druck und Isolation ist schädlich“, erklärt sie. Auch die bekannte „Auszeit“, bei der Kinder mal gerne vor die Tür gesetzt werden, schade nachweislich, warnt Ballmann. Wichtig sei es laut der Pädagogin, Eltern, Politiker und Erzieher für das Thema Gewalt und Kinderrechte zu sensibilisieren. „Ein Kind muss zum Beispiel nicht essen, wenn es nicht möchte, oder sollte sich auch schon sehr klein seinen Teller selbst zusammenstellen dürfen“, erklärt sie. Auch Schlafen sollte freiwillig geschehen. „Wenn ein Kind sich mittags nicht hinlegen möchte, sollte es eine Alternative geben. Und das kann auch einfach mal Rumsitzen sein.
Dass die Folgen von verbaler Gewalt ein großes Thema seien, bestätigt auch der renommierte Hamburger Kinderpsychiater Michael Schulte-Markwort. Sätze wie „Bist du so doof oder tust du nur so?“seien „unterirdisch“: „Wenn ein Kind ein anderes schlägt, kann ich das als Erzieher nicht mit verbaler Gegengewalt und Abwertung beantworten. Vielmehr müsste ich dem Kind deutlich machen, dass ich so ein Verhalten nicht möchte und was es bei seinem Spielkameraden damit auslöst.“
Muss man ein Kind aber derart in Watte packen? Schließlich wird es im Leben draußen auch immer rauen Umgangsformen begegnen. „Wir wollen doch hin zu einer gewaltfreien Gesellschaft, in der wir uns respektieren und wertschätzend miteinander umgehen“, sagt Schulte-Markwort dazu. „Das beginnt nun mal schon bei den Kindern.“Er plädiert dafür, gewaltfreie Kommunikation stärker in der Ausbildung zum Erzieher zu verankern.
Die Entwicklungspsychologin Lieselotte Ahnert verweist auf die Situation, die in vielen gerade großen Kinderbetreuungseinrichtungen hierzulande herrscht. Zwei Erzieher kommen im Schnitt auf zwölf Kinder unter drei Jahren. Regional gibt es starke Unterschiede. Für viele Erzieher bedeutet ein schlechter Betreuungsschlüssel hochgradigen Stress – für die Kinder Vernachlässigung. Wird mit einem Kind nur das Nötigste gesprochen, bedeutet es für das Kind „eine komplette Infragestellung seines Seins“. Ballmann möchte Erzieher nicht anklagen, sondern dem System helfen, betont sie. „Der Beruf des Erziehers muss aufgewertet werden, und vor allem müssen Erzieher auf den aktuellen Stand der Pädagogik gebracht werden.“
Eltern, die einen guten Kindergarten suchen, rät sie, zunächst auf die Einrichtung zu achten. Wenn schon die Topfpflanzen im Eingangsbereich nicht gepflegt sind, ist das ein schlechtes Zeichen. Auch sollte nicht geschrien werden. Eltern täten gut daran, die Leitung konkret auf die Einhaltung der Kinderrechte anzusprechen.
„Gewaltfreiheit beginnt bei Kindern“