Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
Alles dran?
Nach der Geburt wird jedes Kind untersucht. Eine Hebamme erklärt, worauf die Geburtshelfer achten.
Wenn ein Kind zur Welt kommt, wird es erst einmal gründlich von Kopf bis Fuß untersucht. Anomalien wie die jetzt in Gelsenkirchen gehäuft aufgetretenen Handfehlbildungen sind zwar selten, doch sie sollten möglichst frühzeitig festgestellt werden. Manche Kinder haben zudem unmittelbar nach der Geburt Probleme und brauchen rasch Hilfe. Doch was prüfen Hebamme oder Arzt genau? Wir sprachen darüber mit Annika Wanierke, die seit 24 Jahren als Hebamme arbeitet und derzeit neben ihrer Arbeit als Vorsitzende des Hebammenlandesverbandes Thüringen noch in der Wochenbettbetreuung im Einsatz ist. Annika Wanierke hat bislang etwa 500 Kindern auf die Welt geholfen.
Wann beginnt die Untersuchung des Neugeborenen?
Wenn das Baby auf dem Bauch der Mutter liegt, beginnen wir mit der Zustandsbeurteilung nach dem sogenannten ApgarScore. Wir erheben den Wert nach einer, nach drei oder fünf und nach zehn Minuten. Und daran können wir schon ganz gut erkennen, ob akut Handlungsbedarf besteht oder nicht. Das Entscheidende ist, dass man gar nicht bemerkt, dass wir Hebammen etwas tun. Aber tatsächlich haben wir sehr genau im Blick, ob das Baby gut gelandet ist.
Besteht denn Handlungsbedarf, wenn das Baby blau ist?
Ein blaues Baby ist erst einmal kein Grund zur Panik. Wenn es ruhig atmet, dann wird es auch nach ein, zwei Minuten ganz schnell rosig. Dann müssen wir nichts tun. Reagiert das Kind, bewegt es sein Gesichtchen und hat eine schöne Muskelspannung, ist alles in Ordnung. Wenn das Kind allerdings keinen Atemzug macht und schlaff ist, dann müssen wir sofort handeln und dürfen nicht abwarten.
Muss ein Baby nach der Geburt sofort schreien?
Nein. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass die Hebamme dem Baby einen Klaps auf den Po gibt, damit es brüllt. Viele Babys sind natürlich empört, wenn sie geboren werden und ins Helle und Kalte kommen, selbst wenn es im Kreißsaal warm und dunkel ist. Das ist für sie ein so starker Reiz, dass sie zu schreien beginnen. Aber es gibt auch Babys, die kommen zur Welt, atmen, kuscheln sich an ihre Mami und weinen nicht. Das ist auch ein bisschen eine Typ-Frage.
Was passiert in einer Notsituation?
Es kommt auf den konkreten Fall an. Solange die Nabelschnur pulsiert, wird das Kind noch von der Mama mit Sauerstoff versorgt. Trotzdem beginnen wir parallel mit der Stimulation: Wir reiben zum Beispiel den Rücken des Babys oder stimulieren es an den Fußsohlen, da haben wir einige Tricks auf Lager. Hilft das alles nicht, muss
das Kind initial kurz mit einem Beutel beatmet wird. Da reicht schon Raumluft. Wenn das Baby allerdings überhaupt nicht atmet, müssen wir es natürlich sofort abnabeln und reanimieren.
Wann wird das Kind normalerweise abgenabelt?
Wenn die Nabelschnur auspulsiert hat – so nach fünf bis zehn Minuten. Danach haben Eltern und Kind erst einmal Zeit, sich kennenzulernen. Das Bonding ist ganz wichtig, weshalb wir der Familie ungestörte Privatsphäre gönnen, sobald das Nötigste getan ist.
Und danach schauen Sie sich das Baby dann eingehend an?
Genau. Das ist dann die sogenannte U1-Untersuchung, die Kinderärzte, Geburtshelfer, Gynäkologen oder Hebammen vornehmen können.
Und worauf schauen Sie als Erstes?
Zuerst wird beurteilt, wie die Hautfarbe ist, die Atmung, der Herzschlag, der Muskeltonus. Dann werden die Reflexe getestet. Der Greifreflex lässt sich zum Beispiel sehr gut auslösen, indem man einen Finger in die Hand des Babys legt. Es wird ihn
sofort umklammern. Der Fluchtreflex wird überprüft, indem man das Baby auf den Bauch legt und leicht gegen seine Fußsohlen drückt. Dann zieht das Baby die Beine unter den Körper nach oben.
Was folgt dann?
Dann schaue ich nach den messbaren Reifezeichen, also Gewicht, Körperlänge und Kopfumfang. In vielen Kliniken wird auch der Brustumfang gemessen. Anschließend werden die nicht messbaren Reifezeichen kontrolliert: Hat das Neugeborene noch Käseschmiere? Trägt es noch die sogenannte Lanugobehaarung? Beides sind Anzeichen dafür, dass das Baby ein bisschen früh geboren ist. Ist dagegen seine Haut sehr trocken und es hat die sogenannten Waschfrauenhände und -füße, deutet das darauf hin, dass das Baby sehr lange im Bauch war. Anschließend betrachte ich die Brust, die Ohren und die Genitalien. Denn an allem kann man ablesen, ob es vom Geburtstermin her passt.
Sehen Sie sich auch den Kopf eingehend an?
Ja, natürlich. Wir prüfen, ob sich die Schädelplatten sehr übereinander
gestülpt haben oder es sonst eine Auffälligkeit gibt. Wir tasten die große Fontanelle, die in der Regel zweimal zwei Finger breit ist, dann die kleine Fontanelle am Hinterkopf. Außerdem schauen wir, ob es eine Geburtsgeschwulst gibt. Dann geht es weiter zu den Augen: Wir schauen, wie der Augenabstand ist und wie die Lidachse.
Was lässt sich daran ablesen?
Ist beispielsweise die Lidachse verschoben, kann das ein Hinweis auf Trisomie 21 sein. Das notieren wir genauso wie beispielsweise den Verdacht auf Alkoholschädigung, der allerdings extrem schwer zu erkennen ist. Danach schauen wir uns die Nase an, ob das Kind gut atmen kann, dann den Mund. Dabei tasten wir auch in den Mund, um mögliche Spaltbildungen oder ein zu kurzes Zungenbändchen zu erkennen, das später beim Trinken behindern könnte. Das muss manchmal chirurgisch versorgt werden. Sind die Ohren zu tief am Kopf angesetzt, könnte das ebenfalls ein Hinweis auf einen Substanzmissbrauch oder Trisomie 21 sein. Nach Zangenoder Saugglockengeburten müssen wir auch prüfen, ob es Verletzungen am Kopf gibt.
Werden Finger und Zehen tatsächlich gezählt?
Ja. Ich hatte auch schon Babys, die einen zusätzlichen Zeh hatten. Aber der ist fast nie richtig ausgebildet. Auch das muss dann meist vom Chirurgen behoben werden.
Wie vermerken Sie die Untersuchungsergebnisse?
Jede Klinik hat ihre eigenen Dokumentationsvorlagen, auch die Hausgeburtshebammen und Geburtshäuser haben ihre Dokumentationen. Alles wird sehr genau eingetragen. Dann haben wir noch das U-Heft des Kindes, in dem neben den messbaren Reifezeichen auch die Auffälligkeiten notiert werden.
Sollte man die Eltern sofort auf Auffälligkeiten hinweisen?
Das ist immer von der konkreten Situation abhängig. Wenn ich etwas bemerke, das sich auch der Kinderarzt anschauen sollte, informiere ich die Eltern, damit sie sich nicht zu Tode erschrecken, wenn er kommt. Nicht selten fällt den Eltern aber auch selbst etwas auf. Etwas anderes ist es, wenn es sich nicht um einen Notfall handelt: Eine Trisomie 21 tatsächlich im Kreißsaal festzustellen, ist gar
nicht so einfach. Die Babys sind oft sehr verknittert, da dauert es oft ein paar Tage, bis das sichtbar wird. Das würde ich den Eltern auf gar keinen Fall sofort im Kreißsaal sagen. Sondern lieber später gemeinsam mit dem Kinderarzt in Ruhe, wenn die Eltern schon Zeit hatten, den Kontakt zu ihrem Kind aufzubauen. Es sei denn, es ist auf Anhieb zu sehen. Dann würde ich auch nicht lügen, das wäre nicht fair. Es ist wichtig, mit den Eltern auf Augenhöhe zu sprechen.
Wie lange dauert die Untersuchung des Neugeborenen insgesamt?
Das kommt natürlich auf die Erfahrung an. Ungefähr eine Viertelstunde, würde ich sagen. Wichtig ist, dass man ein Neugeborenes ganz in Ruhe untersucht und nicht etwa in Hektik. Denn das mag es überhaupt nicht.
Es ist doch bestimmt eine der schönsten Aufgaben einer Hebamme, ein Neugeborenes zu untersuchen, oder?
Es ist für mich vor allem immer wieder beeindruckend, in die Augen eines Neugeborenen zu schauen. Denn das ist, als ob man in die Unendlichkeit blickt.