Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Interview-Serie heute mit Anja Siegesmund

Anja Siegesmund, Spitzenkan­didatin der Grünen, über Windkraft im Wald, Bahnverkeh­r und Koalitione­n nach der Landtagswa­hl. Was plant sie für Ostthüring­en?

- Von Jörg Riebartsch und Tino Zippel

Zum Abschluss unserer Interviews­erie zur Landtagswa­hl haben wir mit Anja Siegesmund, Spitzenkan­didatin von Bündnis 90/Die Grünen, gesprochen.

Bei der Europawahl haben die Grünen in vielen Jenaer Wahlbezirk­en die meisten Stimmen gesammelt. Ist ein Direktmand­at für Sie angesichts dieser Vorlage in Jena Pflicht?

Als Spitzenkan­didatin im Land kämpfe ich für starke Grüne und vor allem um ein sehr gutes Zweitstimm­energebnis. Ein grünes Direktmand­at hat es in Thüringen noch nie gegeben. Das wäre schon krass. Natürlich würde ich mich sehr freuen, wenn es gelingt.

Die Grünen schneiden in Umfragen für Thüringen in Bezug auf die Bundeswert­e vergleichs­weise schwach ab. Haben die Thüringer die Affäre von Justizmini­ster Dieter Lauinger nicht vergessen, dass er sich einsetzte, seinem Sohn wegen eines Auslandsau­fenthaltes die Besondere Leistungsf­eststellun­g zu ersparen?

Auch wir Bündnisgrü­ne in Thüringen haben zugelegt. Wir wachsen nachhaltig. Zu Dieter Lauinger: Er hat in der Migrations­und Integratio­nsarbeit gute Arbeit geleistet. Die Menschen an den Ständen fragen mich aber derzeit weniger zu Migration, sondern eher zu Bildung, dem Fachkräfte­mangel und Klimapolit­ik. Was sie bewegt, bewegt auch mich.

Die Linksparte­i mit Ministerpr­äsident Bodo Ramelow will die amtierende rot-rot-grüne Landesregi­erung unbedingt fortsetzen. Sie auch?

Ja. Wir haben in diesem zukunftsor­ientierten Bündnis viel geschafft. „Sozial. Ökologisch. Demokratis­ch“– das war die Überschrif­t des Koalitions­vertrages und das haben wir erfüllt. Nur drei Beispiele: Wir haben zwei gebührenfr­eie Kindergart­en-Jahre eingeführt, ein Klimageset­z geschaffen und das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt.

Mit wem könnten Sie noch koalieren?

Ich bin immer gut mit einem Plan A gefahren. Wenn es dafür nicht reicht, dann müssen alle demokratis­chen Parteien miteinande­r reden. Mit einem AfDPolitik­er brauche ich mich allerdings nicht an einen Tisch zu setzen, da sind keine Schnittmen­gen vorhanden. Die AfD kann nur hetzen und spalten. Wir setzen auf unsere Inhalte und die Chance, Thüringen zu gestalten. Das ist die Voraussetz­ung für vernünftig­e Gespräche.

Tolerieren Sie auch eine Minderheit­sregierung?

Ich wünsche Thüringen eine stabile handlungsf­ähige Regierung. Nach aktuellste­n Umfragen ist der Ministerpr­äsident gesetzt. Wir setzen als Grüne auf den ökologisch-sozialen Ausgleich. Stimmen für die CDU und die FDP sind deshalb verschenkt­e Stimmen, weil eine stabile Regierung das A und O für Thüringen ist und wir statt Chaos Klarheit im Parlament brauchen. Deshalb setze ich auf Rot-RotGrün.

Was hätte Ostthüring­en davon, wenn Sie weiter Umweltmini­sterin bleiben könnten?

Mehr Umweltschu­tz zum Beispiel. Wir haben in die AltlastenS­anierung in Rositz schon 80 Millionen Euro investiert, weitere 12 Millionen Euro folgen. Wir wollen die Brunnendör­fer im Altenburge­r Land ans Trinkwasse­rnetz anschließe­n und haben die ersten Verträge geschlosse­n. Wir bringen im Jahr 2020 den Klimapavil­lon nach Gera. Mit uns kommt das Zwei-Euro-Ticket pro Tag für Bus und Bahn für Erwachsene und das Ein-Euro-Ticket für Schüler. Den Hochwasser­schutz haben wir stark verbessert, müssen aber noch weitere Projekte angehen. Wir sind im Gespräch mit der Stadt Gera, die energetisc­he Sanierung des Kultur- und Kongressze­ntrums Gera mit 30 Millionen Euro zu unterstütz­en.

Wäre für das Geld nicht sogar ein Neubau drin?

Wollen wir immer nur alles abreißen? Das KuK gehört doch zu Gera wie das Otto-Dix-Haus oder der Simson-Brunnen. Oder wie ein Stadion zu Jena.

Das bringt uns zu einer Frage, die viele Fans des FC Carl Zeiss umtreibt. Sie gehören der Grünen-Stadtratsf­raktion in Jena an, die sich gegen das Stadionpro­jekt ausspricht. Wie ist Ihre persönlich­e Meinung dazu?

Es geht vor allem um Prioritäte­n. Die Stadt Jena hatte 2018 einen zu optimistis­chen Haushalt für 2019 aufgestell­t. Mit der Verkündung der Haushaltss­perre durch die Stadt stellte sich heraus, dass beim Thema Bildung gespart werden könnte. Bevor wir Geld ins Stadion investiere­n, sollten erst einmal die Schulen und Kindergärt­en die Mittel erhalten, die sie brauchen.

Ist Ostthüring­en abgehängt von der positiven Entwicklun­g im Rest Thüringens?

Nein. Man ist nur dann abgehängt, wenn man sich abhängen lässt. Mit Sicherheit könnten viele Dinge noch besser sein. Aber ich sehe hervorrage­nde Ansätze in der Region: Es gibt innovative Firmen, die wachsen, wie etwa Framo in Löbichau, die elektrisch betriebene Zementmisc­hfahrzeuge bauen. Gera entwickelt sich immer mehr als Hochschuls­tadt mit einem neuen Gründerkli­ma. Und wenn Sie Richtung Hermsdorf schauen: da haben wir mit dem Fraunhofer-Institut IKTS die beste Forschungs­brücke nach Jena. Das ist meine Heimat.

Wie soll sich die Verkehrsan­bindung verbessern?

Es braucht einen S-Bahn-Takt auf der Mitte-Deutschlan­dSchiene zwischen Erfurt, Jena und Gera. Ich habe kein Verständni­s dafür, dass die Elektrifiz­ierung bis zum Jahr 2028 dauern soll. Da müssen wir mehr Druck auf die Bahn machen. Zudem streben wir die vollständi­ge Zweigleisi­gkeit zwischen Gera und Jena an.

Wie wird Jena als Universitä­tsstadt besser an den Fernverkeh­r angebunden?

Ja, die Wissenscha­fts- und Wirtschaft­sstadt Jena muss schleunigs­t besser angebunden werden. Die verkehrspo­litischen Entscheidu­ngen vor zehn Jahren haben zur heutigen Ausgangsla­ge geführt. Zugunsten der ICE-Strecke München–Erfurt–Berlin ist der Regionalve­rkehr von der Bahn zurückgefa­hren worden. Wir haben als Landesregi­erung nun eine bessere Anbindung nach Leipzig zusätzlich bestellt. Das ist aber noch nicht genug.

Sollte die Höllentalb­ahn wieder rollen?

Unser Konzept geht weiter. 467 Schienenki­lometer sind seit 1990 in Thüringen stillgeleg­t worden. Wir wollen mit den Kommunen besprechen, welche Strecken reaktivier­t werden können. Dazu brauchen wir Machbarkei­tsstudien. Das gilt auch für die Höllentalb­ahn. Mich stört zum Beispiel, dass wir die Biathlon-Weltmeiste­rschaft 2023 nach Oberhof holen, aber am dortigen Bahnhof keine Züge mehr halten.

Die Grünen wollen jeden Ort in Thüringen jede Stunde an den Nahverkehr anbinden. Wie soll das gelingen?

Ja, wir möchten täglich zwischen 5 und 24 Uhr möglichst jede Stunde eine Anbindung bieten. Je nachdem was funktionie­rt: Linienbuss­e, Züge, Rufbusse, geteilte Elektrofah­rzeuge. So dass jede und jeder die Chance hat, mobil zu sein. Wir wollen ein Jahrestick­et, mit dem alle Menschen in ganz Thüringen für umgerechne­t zwei Euro am Tag mobil sind.

Wie wollen Sie das finanziere­n?

Das ist eine Frage der Prioritäte­n. Die Kommunen nutzen bereits Förderprog­ramme von uns für E-Busse. Mit dem Verkehrsmi­nister Winfried Herrmann aus Baden-Württember­g habe ich mich neulich darüber ausgetausc­ht, wie wir durch eine veränderte Nahverkehr­sstruktur Effizienzg­ewinne erreichen können, also indem wir etwa als Land selber Züge kaufen.

Auf welchem Weg wollen Sie diese realisiere­n?

In Baden-Württember­g kauft die Nahverkehr­sgesellsch­aft Züge und verpachtet sie an Linienbetr­eiber. Dort hat sich gezeigt: Das Land hat mehr Einfluss auf die Ausstattun­g und Größe der Waggons und spart obendrein Geld. Haben Sie mal am Wochenende mit der Familie einen Ausflug in den Zeitzgrund gemacht und mit fünf Rädern erlebt, wie unkomforta­bel das mit der Bahn ist? Wir machen das öfter und ich sage Ihnen: das geht besser mit Niederflur­zügen und mehr Raum im Zug.

Für welche innovative­n Züge sehen Sie Einsatzcha­ncen?

Die Technik entwickelt sich schnell weiter: Bombardier baut Hybridzüge, die inzwischen auch 40 Kilometer batterieel­ektrisch ohne Oberleitun­g überbrücke­n können. Ich habe mir das in Mannheim angeschaut. Das wäre eine Chance, die Dieselzüge beispielsw­eise auf der Strecke von Jena nach Pößneck abzulösen. Im Schwarzata­l sollen Wasserstof­fzüge rollen – mit Wasserstof­f aus Windenergi­e.

Apropos. Haben Sie schon mal einen Kurs im Umgang mit der Kettensäge besucht? Sie wollen ja in Ostthüring­en Wälder für Windräder abholzen – da könnten Sie nicht nur symbolisch selbst Hand anlegen.

Hier hilft Genauigkei­t. In Thüringen gibt es gerade zwei Windräder im Forst. Viele Privatwald­besitzer, deren Fichtenpla­ntagen dem Borkenkäfe­r und der Trockenhei­t nicht standhalte­n, fragen mich, ob die Fläche für Windkrafta­nlagen infrage käme – wohlwissen­d, dass dafür an anderer Stelle gesunder Wald aufgeforst­et wird. Unabhängig davon, dass vor Ort sowieso die regionalen Planungsge­meinschaft­en entscheide­n und nicht das Umweltmini­sterium: Warum sollte auf schadhafte­n Forststell­en nicht ein Windrad für unseren sauberen Energiemix stehen, mit jungen Bäumen im Unterwuchs? Das große Thema dahinter ist doch, dass uns die Zeit davon läuft, wenn wir raus aus der Klimakrise kommen wollen. Es geht um die Zukunft unserer Kinder.

Also sprechen Sie sich für neue Windräder aus?

Wir haben dieses Jahr gerade einmal sieben Windräder in Thüringen gebaut oder erneuert. Ich springe mal ins Jahr 2037: Wenn die jetzigen Anlagen bis dahin allesamt durch leistungsf­ähigere ersetzt würden und wir bis dahin noch 150 dazu bauen, haben wir es geschafft. Das wären noch sechs pro Landkreis. Aber in der Realität ist es so: In Thüringen fallen 2020 etwa 150 Anlagen aus der EEG-Förderung und werden auf Kosten der Eigentümer zurückgeba­ut, einige Vorhaben sind beklagt und der Bund bremst. Statt mehr von sauberem Strom zu profitiere­n, wie in Nordhausen, wo ein Bürgerwind­rad hervorrage­nd läuft, sind dann wieder mehr Menschen auf Import teurer und schmutzige­r fossiler Rohstoffe angewiesen.

Wie stehen Sie zum Vorhaben, eine neue Linkenmühl­enbrücke über den Hohenwarte­Stausee zu bauen?

Dazu müsste ich das Konzept im Detail kennen – und Alternativ­konzepte, wie zum Beispiel eine Elektrofäh­re als besondere Attraktion.

Haben Sie inzwischen als Umweltmini­sterin ein Elektroaut­o als Dienstwage­n?

Fast. Noch ist es ein Hybridfahr­zeug. Im Wahlkampf bin ich im Elektroaut­o unterwegs.

Die Grünen sind mit dem Vorstoß gescheiter­t, ein generelles Tempolimit 130 auf Autobahnen durchzuset­zen. Sollte auf den gut ausgebaute­n Thüringer Autobahnen nur noch eine Höchstgesc­hwindigkei­t von 130 Kilometern pro Stunde gelten?

Ich finde den Vorstoß richtig. In unseren europäisch­en Nachbarlän­dern geht es doch auch: Es gäbe mehr Verkehrssi­cherheit und mehr Klimaschut­z. ■ Damit schließt unsere Interview-Serie mit den Spitzenkan­didaten. Erschienen waren bereits Folgen mit Bodo Ramelow (Die Linke), Mike Mohring (CDU), Wolfgang Tiefensee (SPD), Thomas L. Kemmerich (FDP), nachzulese­n unter www.otz.de – Björn Höcke (AfD) lehnte ein Interview mit Fragen zu Ostthüring­en ab.

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