Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
„Es darf auch gepfiffen werden“
Trainerlegende Hans Meyer liest in Jena mit Thomas Thieme und Frank Quilitzsch
19.03 Uhr ergreift der Autor und Journalist Frank Quilitzsch das Mikrofon im Jenaer Volksbad. Kein Zufall, diese Startzeit – 1903 war das ursprüngliche Gründungsjahr des FC Carl Zeiss Jena, dem fußballerischen Stolz der Stadt. „Das Fanprojekt Jena besteht auf dieser Anfangszeit“, erklärt der Redner den knapp 300 Besuchern. Sie alle sind zu einer Lesung gekommen: Quilitzsch und der Weimarer Schauspieler Thomas Thieme geben Passagen aus dem gemeinsamen Werk „Ich Hoeneß Kohl“zum Besten. Doch sie sind vor allem da, weil sie ihn live erleben wollen: Hans Meyer, Trainerlegende und eine Ikone in der Saalestadt.
„Der Zeitpunkt ist günstig, Gladbach ist in der Bundesliga auf Meisterkurs“, spielt Quilitzsch auf das Borussia-Präsidiumsmitglied Meyer an. Doch der würdigt diese kleine Spitze von seiner Sitzreihe im Publikum aus zunächst, wenn überhaupt, mit einem vagen Lächeln.
Das Duo Quilitzsch und Thieme legt vor. Schon seit 18 Jahren reden die beiden Freunde am Telefon über Theater, Film und Fußball. Beide harmonieren prächtig, ungefragt schenkt der eine dem anderen ein Glas Wasser ein. „Herr Thieme, wo sind Sie?“, lautet die stets wiederkehrende Gesprächseröffnung. Und wenn dieser einmal nicht bei Dreharbeiten oder Theaterbesuchen in Weimar weilt, findet man ihn auf dem Fußballplatz. „Am 8. Mai 1997 gründete ich den FC Energie Schaubühne, einer meiner größten Tage“, sagt Thieme, der am 29. Oktober 71 wurde.
Mit rhetorischer Präzision spielen sich beide die Bälle zu. Anekdoten wie die über die ZusammenErfurt arbeit Thiemes mit Ex-Bundesligaspieler Jimmy Hartwig bieten genügend Gesprächsstoff. Als sie auf Günter Netzer zu sprechen kommen, mit dem Thieme eine herzliche Freundschaft pflegt, ist es Zeit für Verstärkung. „Es darf auch gepfiffen werden“, sagt Meyer zum Publikum, als er unter Beifall die Bühne betritt.
Pfiffe gibt es keine, dafür reichlich Applaus und einige Lacher. Die Jenaer lieben ihren Hans, sein Wirken, seine Art. Sie wissen, was sie ihm zu verdanken haben: dreimal FDGB-Pokalsieger mit der ZeissElf, der Titel 1980 führte anschließend zu einer unvergessenen Siegesserie durch Europa, an deren Ende der Finaleinzug 1981 im Europapokal der Pokalsieger stand. Viele Fans verzeihen ihm sogar, dass er nach seiner Entlassung 1983 für einige Jahre den Erzrivalen Rot-Weiß coachte. Ungeprobt, doch authentisch, verkörpert Meyer seine Rolle als Günter Netzer, den er als große Persönlichkeit zu schätzen weiß. In den Sprechpausen blickt er zurückgelehnt ins Publikum: Mein Jena, meine Fans, mag er sich denken.
Später findet der in Nürnberg lebende 76-Jährige auch kritische Worte. So verstehe er nicht die ständige Suche nach Spielmacher-Typen à la Netzer, Matthäus oder Effenberg. Die Aufgaben auf dem Platz seien heute anders verteilt und Ausstrahlung lasse sich nicht künstlich herbeiführen. Ohnehin seien zu viele Experten der Meinung, das Spiel erfunden zu haben. „Wir haben unsere Weltmeister vier Jahre gefeiert und sprechen gleichzeitig noch ein Jahr später vom Vorrundenaus. Diese einseitige Art zu urteilen schadet dem Sport.“
Auch zum aktuellen Tal der Tränen in Jena hat Meyer einen klaren Standpunkt: „Ich bin nicht nah genug dran, um etwas werten zu können. Aber ich weiß eins: Wenn bei einem Traditionsverein seit Jahren keine müde Mark vom namengebenden Konzern kommt, sollte man überlegen, diesen Namen weiter zu tragen.“Es gibt Applaus, auch von Matthias Stein. Der Fanbeauftragte war vergangenen Samstag mit 1000 FCC-Anhängern in Düsseldorf, wo 1981 das denkwürdige Pokalfinale gegen Dinamo Tbilissi stattfand.
Hans Meyers Redefluss ist kaum zu stoppen. Quilitzsch will dazwischengrätschen, scheitert aber das eine und das andere Mal. Thieme versucht es gar nicht erst. Das Gespräch wird zum Experten-Monolog. Wer Meyer kennt, den überrascht dies nicht. Doch die Leute genießen es. Zwei Stunden lang.
Dann Abpfiff.