Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
„Wenn Theater nicht berührt, haben wir etwas falsch gemacht“
gemeinsam gegen das Vergessen Kay Kuntze, Generalintendant des Theaters Altenburg Gera, im Interview
herr kuntze, seit der letzten spielzeit haben sie die reihe „Wider das Vergessen“in den spielplan aufgenommen, warum?
Als fusioniertes Theater setzen wir uns mit Gera und Altenburg mit zwei historisch, demografisch und politisch sehr unterschiedlichen Städten auseinander. Trotzdem wollten wir für unser Theater ein gemeinsames Profil entwickeln. Das gelingt, indem wir Spielplan-reihen konzipieren, die von regionaler, gesamtgesellschaftlicher und tagespolitischer Relevanz und übergreifend sind. Seit vielen Jahren haben wir in allen fünf Sparten damit Erfolg. So reagierten wir auf das Lutherjahr 2017 mit der Reihe „Vom Himmelhoch“, verfolgten den „Weg der Heldinnen“unter anderem mit der Aufführung „Die Frauen von Troja“mit internationaler Besetzung. Wir luden ein in die 20er-jahre zum „Tanz auf dem Vulkan“und setzten „Wegmarken der europäischen Geschichte“. In der aktuellen Themenreihe „Wider das Vergessen“reagieren wir auf den Rechtsruck in der Gesellschaft und den erschreckend zunehmenden Antisemitismus.
Was kann theater dagegen leisten?
Wir arbeiten mit Mitteln der Empathie, dem Einfühlungsvermögen in Menschen und Situationen. Mit der Kraft der Kunst wollen wir Geschichtsbewusstsein stärken. Wer historisch aufgeklärt ist, kann Ereignisse in der Gegenwart besser einschätzen. Wir bedienen den alten Katharsisgedanken griechischer Tragödien, wollen auf- und anregen, mit den eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen besser umzugehen. Theater ist eine Institution mit demokratiestützender Kraft.
Welche stücke entsprachen diesem anliegen?
Das Musical „Cabaret“, die Kammeropern „Die Weiße Rose“und „Der Kaiser von Atlantis“, das Puppentheater „Die große Reise“und die Oper „Die Passagierin“des polnischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg.
bei dieser oper, wo sich die jüdische kz-gefangene martha und ihre kz-aufseherin lisa wiederbegegnen, hat sich am ende keine hand zum beifall gerührt. ganz leise und tief ergriffen hat das publikum den theatersaal verlassen. namen ermordeter jüdischer bürger liefen dabei in endloser reihe ab, darunter auch namen und orte aus unmittelbarer umgebung. haben sie in ihrer theaterzeit so etwas schon mal erlebt?
Nein. Auch die Sänger und die Musiker verharrten in völliger Stille. Bei der Premiere wusste ich nicht, wie das Publikum reagieren würde. Vier Jahre lang lag die Oper bei mir auf dem Tisch. Der jüdische Komponist hatte durch die Vernichtungsmaschinerie der Faschisten seine ganze Familie verloren.
Wie bringt man so ein stück auf die bühne?
Ich war voller Unbehagen. Es sollte kein folkloristisches Boulevardstück des Schreckens werden und befreit sein von den Routinen eines Theaterabends wie Beifall und Blumen für die Akteure.
Das ist ihnen gelungen…
Wir hatten keine Applausordnung vorbereitet und gehofft, dass sich die Aufführung in ihrem Charakter von einer Theateraufführung in eine Gedenkveranstaltung verwandelt. Von diesem gemeinsamen Schweigen des Ensembles und des Publikums ging eine große, innere Energie aus, eine Verbindung zwischen den Zuschauern und uns Theaterleuten.
Vor den proben hatten sie mit ensemblemitgliedern die kz-gedenkstätte buchenwald besucht, wie ging es ihnen?
Jahrzehnte später diese Gräueltaten nachzuerleben, hat alle aufgerührt, betroffen gemacht. Ganz selbstverständlich nahmen die Darsteller danach alle physischen Härten auf sich, die diese Oper ihnen abforderte. Im Scheinwerferlicht trugen sie stundenlang ihre kahlgeschorenen Köpfe und kauerten in den harten, engen Lagerstühlen ohne jede Polsterung. Während der Proben nahm mein Gefühl zu, etwas Richtiges, ja Notwendiges zu tun.
Wird diese oper noch einmal im spielplan sein und sind weitere stücke in der reihe „Wider das Vergessen“zu erwarten?
Ja, aber das werde ich erst mit der Vorstellung des neuen Spielplanes verraten.
Die besucherzahlen sind gestiegen, wie finden und halten sie diese Freunde des theaters?
Wir suchen die Öffentlichkeit. Bei der Eröffnung des Geraer Lutherwanderweges waren wir dabei, wir führen Theatergottesdienste auf, bieten viele partizipatorische Projekte an, spielen Jugendstücke wie „Die Känguru-chroniken“und gewinnen mit Familien-stücken wie dem Musical „Tschitti Tschitti Bäng Bäng“eine bunte Anhängerschar. Im Gegensatz zu anderen Theatern halten wir am Abonnement fest. Das ermöglicht uns aufwendige Inszenierungen wie „Die Passagierin“.
mit der sie für den Deutschen theaterpreis „Der Faust“nominiert sind. ist das eine anerkennung für die mühen des gesamten ensembles um diese ausnahme-inszenierung?
Ja und auch eine Anerkennung für das Publikum und seine Bereitschaft, sich mit schwerem und neuem Stoff auseinanderzusetzen und Emotionen frei zulassen. Theater ist wie eine feinstoffliche Injektion für das Seelenheil. Wenn Theater nicht berührt, haben wir etwas falsch gemacht.