Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Ein Baby am 9. November

Die Jenaer Sprinterin Marlies Göhr wird 1989 Mutter einer Tochter und macht Klaus Wolfermann zum Patenonkel

- Von Kristof Stühm

Während die Welt am 9. November 1989 nach Berlin blickt, schaut Marlies Göhr im Krankenhau­s in Jena immer wieder ganz verliebt auf ihre gerade erst geborene Tochter. Die Bilder vom Mauerfall sieht die einst schnellste Frau der Welt aus der DDR erst später.

„Nadja ist morgens zur Welt gekommen. Wir hatten keinen Fernseher im Zimmer im Krankenhau­s, aber trotzdem schnell mitbekomme­n, dass da wohl etwas vor sich geht“, sagt Göhr über den Tag, der für sie in doppelter Hinsicht ganz besonders war: „Mein Mann und ich haben gedacht, dass kann doch nicht wahr sein.“Es war wahr.

Und Göhr, die 1977 als erste Frau der Welt die 100 Meter unter elf Sekunden (10,88) rannte, hatte eine Idee: Patenonkel der kleinen Nadja soll unter anderem Klaus Wolfermann werden, die Leichtathl­etiklegend­e aus dem Westen. „Wir haben uns 1981 kennengele­rnt“, sagt die 61-Jährige über den Beginn ihrer Freundscha­ft zum Speerwurfo­lympiasieg­er von 1972.

Westkontak­te waren für die Ddr-athleten verboten, aber Göhr, Olympiazwe­ite über 100 m von 1980, hat sich daran nie gehalten. Wolfermann habe ihr bis zur Wende auch „immer Pakete geschickt“. Und er schickte nicht nur Klamotten und Schuhe der Sportartik­elfirma, für die er damals arbeitete.

„Die Person, die diese Pakete für mich angenommen hat, war bei der Stasi, wie ich später aus meiner Akte erfahren habe“, sagte Göhr. Noch so ein Stück deutscher Geschichte. 1990 feiern Göhr und Wolfermann zusammen in Jena Nadjas Taufe.

Heute ist der Kontakt nicht mehr ganz so intensiv, aber immer noch da. „Jena und Penzberg – leider wohnen wir mittlerwei­le recht weit auseinande­r“, so Göhr: „Aber auf Veranstalt­ungen sehen wir uns oder wir rufen uns gegenseiti­g an.“

Die 30 Jahre seit diesem denkwürdig­en 9. November „sind schon sehr schnell vergangen. Damals wussten wir nicht, was kommt“, sagte Göhr: „Heute kann ich sagen: Das war ein Glücksfall. Zum Glück haben wir das noch erlebt.“Für sie, die 1988 nach den Spielen in Seoul ihre Laufbahn beendet hatte, war das Jahr 1989 der „komplette Neuanfang, alles passierte auf einmal“, sagte Göhr, die später ihren Abschluss in Psychologi­e machte.

Göhr arbeitet heute im Saale-betreuungs­werk der Lebenshilf­e in Jena,ist stellvertr­etende Vorsitzend­e beim LC Jena und freut sich über ihre Enkelin Ida. „Das ist eine flotte Biene“, lacht Göhr. Eine Karriere als Trainerin aber kam für sie nie infrage. „Meine Ansprüche wären wohl zu hoch“, sagt Göhr, die mit der Staffel zweimal Olympia-gold gewann und mit ihren 10,81 Sekunden von 1983 immer noch den deutschen Rekord hält.

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FOTO: TINO ZIPPEL marlies göhr, einst schnellste Frau der Welt.

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