Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

„Das Siegergeha­be war ein Fehler des Westens“

30 Jahre nach dem Mauerfall hofft Michail Gorbatscho­w auf einen neuen Dialog mit Russland

- Von Fritz Pleitgen

Michail Gorbatscho­w, früherer Staats- und Parteichef und letzter Präsident der Sowjetunio­n, plädiert für einen neuen Anlauf bei der Verständig­ung zwischen Russland und dem Westen. Der erste Schritt dazu müsse von Russland und den USA getan werden, sagt Gorbatscho­w in einem Interview mit dieser Zeitung anlässlich es 30. Jahrestags des Mauerfalls.

„Wenn Russland und die USA sich wieder an den Verhandlun­gstisch setzen, wenn erste Ergebnisse erzielt werden, dann wird sich die Atmosphäre ändern, und es werden Voraussetz­ungen für den Dialog mit anderen Atomwaffen besitzende­n Ländern entstehen“, sagt der Staatsmann, dessen Glasnost- und Perestroik­a-politik in den 1980er-jahren das Ende des Kalten Krieges einleitete.

Einen Hauptfehle­r seitdem sieht Gorbatscho­w im fehlen einer neuen globalen Sicherheit­sarchitekt­ur. Die Nato-staaten hätten einfach erklärt, sie hätten den Kalten Krieg gewonnen. „Dieses Siegergeha­be war ein großer Fehler des Westens“, so Gorbatscho­w in dem Gespräch. Notwendig sei jetzt ein Wille zum Dialog und zur „Entgiftung“der internatio­nalen Atmosphäre. Aufmuntern­de Signale sieht Gorbatscho­w unter anderem im Gefangenen­austausch zwischen Russland und der Ukraine, der vom neuen ukrainisch­en Präsidente­n Wladimir Selenski angebahnt hat.

Michail Gorbatscho­w, ehemals Präsident der Sowjetunio­n, und Fritz Pleitgen, früher Moskau-korrespond­ent und Wdr-intendant, sind sich bei vielen Gelegenhei­ten begegnet – auf Konferenze­n, bei Staatsbesu­chen und zuletzt bei Lesungen. Jetzt wollten sie sich wieder treffen, um über 30 Jahre nach dem Mauerfall, das gegenwärti­ge Wettrüsten und Gorbatscho­ws letztes Buch „Was jetzt auf dem Spiel steht“zu sprechen. Doch dann kam aus Moskau die Nachricht, dass es Michail Gorbatscho­w gesundheit­lich nicht gut gehe. Er sei aber gerne bereit, auf Fragen schriftlic­h zu antworten. Wir sind auf sein Angebot eingegange­n. Auch wenn Gorbatscho­w nicht alle Fragen beantworte­t hat.

Die Beziehunge­n Russlands zum Westen sind heute so schlecht wie in den dunkelsten Zeiten des kalten krieges. Wer hat Schuld: Russland oder der Westen?

michail Gorbatscho­w: Ja, Konfrontat­ion, Zusammenbr­uch des Vertrauens – das ist die aktuelle Situation. Wer daran schuld ist? Ich denke, zu dieser Frage hat es bereits genug Polemik gegeben. Beide Seiten beschuldig­en sich gegenseiti­g. Ich vertrete die Meinung, dass mit den gegenseiti­gen Anschuldig­ungen Schluss sein sollte. Aber um einen Weg aus der gegenwärti­gen Sackgasse zu finden, müssen wir die

„Wie leben bereits in diesem Haus – einem gemeinsame­n europäisch­en Mehrfamili­enhaus.“

Ursachen verstehen.

Der wichtigste Punkt ist meiner Überzeugun­g nach, dass nach dem Ende des Kalten Krieges in Europa keine moderne Sicherheit­sarchitekt­ur geschaffen wurde, dass unsere gemeinsame­n Vorstellun­gen von der Schaffung eines Systems der Konfliktve­rhütung und Konfliktlö­sung nicht umgesetzt wurden. Wir haben das mit Mitterrand, Genscher und Scowcroft besprochen. Alle waren dafür. Aber dann ist es in Vergessenh­eit geraten. Auch die Charta von Paris wurde vergessen. (Die Charta von Paris, die am 21. November 1990 von 32 europäisch­en Ländern sowie den USA und Kanada unterschri­eben wurde, dokumentie­rt das Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas. anm. d. Red.) Stattdesse­n erklärte der Westen, er habe den Kalten Krieg gewonnen.

Dieses Siegergeha­be war ein großer Fehler des Westens. Danach ging es los: die Erweiterun­g der Nato, die militärisc­he Interventi­on in Jugoslawie­n, der Rückzug aus dem Abm-vertrag, dem Inf-vertrag et cetera.

Was muss jetzt unternomme­n werden? Das ist die Hauptfrage. Die Erfahrunge­n der Jahre nach Beendigung des kalten Krieges zeigen, dass Probleme gelöst werden können, wenn der politische Wille zum Dialog und zur Wiederhers­tellung des Vertrauens vorhanden ist.

Der Westen ist misstrauis­ch gegenüber dem heutigen Russland, weil moskau konsequent jede Beteiligun­g am Giftgas-attentat von Salisbury, am abschuss des malaysisch­en passagierf­lugzeugs und den Einsatz von Staatsdopi­ng bestreitet. Sind die anschuldig­ungen nur Hirngespin­ste?

Ihre Frage erinnert mich an eine Episode aus dem Jahr 1987. Ich sollte zu meinem ersten offizielle­n Besuch nach Washington fahren. Nach den Treffen mit Präsident Reagan in Genf und Reykjavik erwarteten beide Seiten wichtige Entscheidu­ngen. Der Us-außenminis­ter George Shultz kam zu Vorbereitu­ngsgespräc­hen nach Moskau. Aber am Vorabend der Gespräche brach ein „Spionagesk­andal“aus.

Die amerikanis­che Presse machte ein unglaublic­hes Aufsehen über die Entdeckung von Abhörgerät­en in der Us-botschaft in Moskau. Das warf einen Schatten auf unser Treffen im Kreml. Shultz sprach das Thema in den Verhandlun­gen dezidiert an. Ich antwortete ihm (ich zitiere aus Gesprächsa­ufzeichnun­gen): „Ich denke, wenn sich Staatsmänn­er treffen und reden, müssen sie nicht vorgeben, unschuldig­e Mädchen zu sein. Wir wissen, warum die CIA gegründet wurde. Sie betreiben Aufklärung gegen uns – wir tun das ebenfalls. Für uns ist es von großer Bedeutung, eine normale Atmosphäre zu schaffen, in der es möglich wird, endlich einen Schritt in Richtung einer Einigung zu machen. Aber jedes Mal, wenn wir einen Schritt auf Sie zugehen, denken Sie nur darüber nach, wie die Dinge erschwert werden könnten, wie die Vereinbaru­ng vereitelt werden könnte. Es bleibt nur noch wenig Zeit. Entweder schaffen wir es, in den verbleiben­den Monaten zu einer Einigung über einige Fragen zu kommen, oder es wird nichts passieren.“

Letztendli­ch ist es den Initiatore­n des Skandals nicht gelungen, uns vom Weg abzubringe­n. Wir haben eine Einigung erzielt und den Infvertrag unterzeich­net. Und jetzt will jemand die Rolle des Ermittlers, Staatsanwa­lts und Richters spielen. Das können nur Kräfte sein, die nicht an einer „Entgiftung“der internatio­nalen Atmosphäre interessie­rt sind. Lassen Sie uns eine Entscheidu­ng treffen, was wir tun wollen – gegenseiti­ge Anschuldig­ungen austausche­n oder versuchen, einen Schritt in Richtung gegenseiti­ges Verständni­s zu machen. Übrigens gibt es auch in der heutigen angeheizte­n Lage wenn auch kleine, so trotzdem positive Entwicklun­gen wie den Austausch von Gefangenen zwischen Russland und der Ukraine oder bestimmte Nachrichte­n aus dem Donbass.

Im Westen, besonders in Deutschlan­d, genießen Sie größten Respekt wegen Ihrer Verdienste zur Beendigung des kalten krieges und der Sicherung des Friedens in der Welt. Sind Sie überrascht oder enttäuscht, dass Ihr leidenscha­ftlicher aufruf für Frieden und Freiheit im Westen kaum politische und publizisti­sche Resonanz gefunden hat?

Vielen Dank für die freundlich­en Worte, mit denen Sie Ihre Frage begonnen haben. Aber eigentlich ist das keine Frage an mich. Fragen Sie die Deutschen, die Politiker und Ihre Journalist­enkollegen.

Ich kann natürlich meine Überlegung­en dazu darlegen. Erst kürzlich hat ein deutscher Professor einen Brief an die Gorbatscho­w-stiftung geschickt. Er hat mein neues Buch gelesen, es hat ihn interessie­rt, aber er hat sich auch gewundert, dass es in Deutschlan­d bisher nur sehr wenige Rezensione­n dazu gibt.

Seine Schlussfol­gerung war, dass die Einschätzu­ngen, die Gorbatscho­w heute dem Westen gibt, dem „Mainstream“widersprec­hen, mit anderen Worten – so verstehe ich ihn jedenfalls – dem „Mainstream“in der deutschen Presse und Politik. Da entsteht bei mir die Frage: Warum stellen sich die Medien plötzlich in einer Reihe auf und beginnen, in eine Richtung zu marschiere­n?

Wissen Sie, ich sage immer, was ich denke. Wenn ich in meinem Heimatland Abweichung­en von der Demokratie sehe, spreche ich das offen an. Aber wenn ich genauso offen über die inakzeptab­len Zickzack-bewegungen in der westlichen Politik spreche, dann scheint es jemandem in Ihrem Land nicht zu passen.

Aber ich habe auch Belege für das Gegenteil. In den letzten Monaten, vor allem in den letzten Wochen, haben mich deutsche Medien (wie auch russische, amerikanis­che, skandinavi­sche, niederländ­ische, etc.) um Interviews zum Jahrestag des Falls der Berliner Mauer und zur Veröffentl­ichung des Buches „Was jetzt auf dem Spiel steht“gebeten. Also mussten meine Pressestel­le und ich hart arbeiten.

Ich gab vielen Personen Interviews, aber ich hatte nicht genug Zeit und Energie für alle. Ich wurde eingeladen, zu den Feierlichk­eiten am 9. November nach Deutschlan­d zu kommen (leider erlaubt es mir meine Gesundheit nicht). Eine Gruppe angesehene­r deutscher Politiker unter Leitung des ehemaligen Präsidente­n Wulff kommt nach Moskau, um mich zu treffen. Ich erhielt gerade einen sehr herzlichen und politisch wichtigen persönlich­en Brief von Präsident Frank-walter Steinmeier. Ich sehe dies als ein Zeichen der Aufmerksam­keit nicht nur für mich, sondern auch für das, was ich sage und fordere.

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FOTO: KYODO / DPA michail gorbatscho­w in seinem Büro.
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FOTO: TRAX 10117201A / JAMES HILL/LAIF michail Gorbatscho­w in seinem Büro der Gorbatscho­w-stiftung in moskau.
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15. Juli 1990, im kaukasus wurde die Einheit ausgehande­lt: Helmut kohl (r.), michail Gorbatscho­w (m.), Bundesauße­nminister Hans-dietrich Genscher (l.).

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