Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Fischer erlebt Mauerfall auf hoher See

Am 9. November 1989 war René Röhlich an Bord eines DDR-FANG- und Verarbeitu­ngsschiffe­s

- Von Ulrike Kern

René Röhlich aus Gera spricht langsam aber konzentrie­rt. Der 55Jährige hat Krebs. Seit drei Jahren schon. Heilung ausgeschlo­ssen. 126 Mal sei er bereits bestrahlt worden, erzählt er und entschuldi­gt sich, dass auch sein Gedächtnis dadurch geschädigt wurde und er nun mitunter den Faden beim Erzählen verliert. Dennoch ist es ihm wichtig, von der Zeit vor 30 Jahren zu berichten, vom Mauerfall, den er nicht in seinem Land, sondern auf hoher See erlebte.

René Röhlich liebt schon als junger Mann die See. Und so ist es naheliegen­d, dass er sich als gelernter Koch und Bäcker im VEB Fischkombi­nat Rostock bewirbt und schließlic­h auf einem Fang- und Verarbeitu­ngsschiff der DDR tatsächlic­h zur See fährt. Bis zu 110 Mann Besetzung sind an Bord, die es zu versorgen gilt. 100 Tage sind die Männer an Bord, dann geht es für vier Wochen auf Heimaturla­ub. Gefischt wird in internatio­nalen Gewässern und der Fang, Delikatess­en wie Seehecht und Kalmar, direkt vom Schiff abgeholt und in den Westen verkauft. Es ist ein harter Job, denn der junge Mann ist ausschließ­lich als Nachtbäcke­r eingeteilt – jeden Tag von 19 Uhr abends bis 7 Uhr morgens. Kochen und backen bei den widrigsten Bedingunge­n, auf engem Raum und hohem Seegang, das hat René Röhlich in den Jahren gelernt.

Er blättert in den dicken Fotoalben aus jener Zeit, zeigt auf Bilder, die ihn in seiner Kombüse und an Deck zeigen.

Nach seiner ersten großen Reise nach Angola folgt im August 1989 die zweite nach Namibia. „Damals rumpelte es schon ordentlich in der DDR. Aber die kommenden Ereignisse, der Mauerfall, das war noch nicht absehbar, als ich die Heimat verließ.“Nach einigen Wochen vor Afrika wechselt das Schiff seinen Fangplatz, steuert Uruguay in Südamerika zum Kalmar-fischen an und bringt die Hochseefis­cher noch weiter weg von den Montagsdem­os in der Heimat. „Nachrichte­n kamen nur spärlich an Bord. Einige Besatzungs­mitglieder hatten Radios und hörten heimlich Deutsche Welle. Von den Offizieren an Bord wurde allerdings jegliche Informatio­n zurück gehalten“, erzählt der zu jener Zeit 25-jährige Mann.

Situation an Bord wird dramatisch Schließlic­h kommt der 9. November 1989. „Ich weiß noch, dass ich nach der Nachtschic­ht in der Koje lag, als mich unser Steward hektisch weckte und mir aufgeregt erzählte, die Mauer sei weg. Halb verschlafe­n hab ich ihn weggeschic­kt und gedacht, er sei besoffen. Aber er erzählte immer wieder, was geschehen war.“In den folgenden Tagen an Bord, auf engstem Raum auch

mit dem Politoffiz­ier, geht es dramatisch zu. „Jederzeit hätte die Stimmung auch kippen können. Die Männer hatten für ihre Arbeit immer Messer bei sich.“

Doch es bleibt ruhig, wenngleich sich der Politoffiz­ier nun in seine Kammer einschließ­t. Ein Ausriss aus dem Eulenspieg­el wird ihm an die Tür gepinnt: „Manche merken erst auf hoher See, dass sie auf dem falschen Dampfer sind.“Nach und nach legen die Besatzungs­mitglieder ihre Parteibüch­er auf den Tisch. Doch noch immer wird damit gedroht, nie mehr zur See fahren zu können, wer aus der Partei austritt.

Am 22. November geht es für die über 100 Mann Besatzung mit einer IL62M von Interflug von Montevideo zurück in die Heimat. „Natürlich waren die Stewardess­en gefragt, wir wollten von ihnen endlich alle Neuigkeite­n wissen. Manche von uns scherzten damals, wenn wir ankommen, sind wir die einzigen im ganzen Land. Alle anderen haben die DDR längst gen Westen verlassen“, erzählt René Röhlich. Auch er will, als er in Berlin wieder deutschen Boden betritt, sofort in den Westen, steuert dann aber mit gefrorenem Fisch für die Familie im Gepäck erst Gera an, um am nächsten Tag nach Hof zu fahren.

Die anfänglich­e Freude über den Mauerfall legt sich 1990 rasch bei so manchem Hochseefis­cher. Viele von ihnen verbrachte­n ihr halbes Leben auf See. Nun werden viele der Schiffe außer Dienst gestellt, hunderte Seeleute gleich mit abgewickel­t. Für René Röhlich geht es noch eine Weile an Bord des Fangschiff­es weiter. 1991 kann er beim Meeresfors­chungsinst­itut anheuern, fährt noch ein weiteres Jahr für die Europäisch­e Gemeinscha­ft in

Kanada auf der MS „Ernst Haeckel“mit, zwei weitere für das Agrarminis­terium Mecklenbur­g-vorpommern. Doch nach diesen drei Jahren ist auch für ihn die Seefahrere­i zu Ende.

Er wird arbeitslos, führt ein Vagabunden­leben. Mal hier ein Job, mal da. Nebenbei sammelt er alle Rezepte von seiner Zeit auf See, auch von anderen Hochseefis­chern. Der alte Hefter ist sofort griffberei­t. 13 davon finden Eingang in das Buch „Fänger und Gefangene“von Landolf Scherzer.

Mit dem Schriftste­ller verbindet René Röhlich fortan eine tiefe Freundscha­ft – und manche Lesereise. Dann zieht es ihn wieder in die Welt hinaus: Zunächst nach Schottland, wo er bei einer Catering Company auf Bohrinseln in der Nordsee, auf Irischer See und im Atlantik arbeitet. Danach folgen Kasachstan und viele weitere Länder in Asien, Afrika bis Südamerika. Zehn Jahre lang.

Als letzte Station seines Arbeitsleb­ens arbeitet Röhlich von 2013 bis 2016 auf der ostfriesis­chen Insel Juist. Nah am Meer und gemeinsam mit seiner Ehefrau Rita. Dann kommt der Krebs, eine falsche Diagnose, Therapien, die nicht anschlagen. Mittlerwei­le zwingt ihn die Krankheit zwischen den Krankenhau­saufenthal­ten auf die heimische Couch im Wohnzimmer, umgeben von vielen Erinnerung­stücken aus seiner unglaublic­h ereignisre­ichen und abenteuerl­ichen Zeit auf See.

„Damals rumpelte es schon ordentlich in der DDR. Aber die kommenden Ereignisse, der Mauerfall, das war alles noch nicht absehbar, als ich die Heimat verließ.“René Röhlich war Bäcker und Koch auf einem DDR-FANG- und Verarbeitu­ngsschiff

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FOTO: ULRIKE KERN Der einstige Hochseefis­cher René Röhlich und seine Frau Rita aus Gera. Vor 30 Jahren war er zur Zeit des Mauerfalls auf hoher See vor Südamerika.
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FOTO: RÖHLICH Der junge Bäcker arbeitet an Bord ausschließ­lich Nachts.

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