Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

„Ich dachte, wir sind schon weiter“

Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey (SPD) über den Mauerfall und deutsche Befindlich­keiten

- Von Christine Richter

Als die Mauer fiel, war Franziska Giffey (41) noch ein Kind. Wie hat sie die Wendezeit erlebt? Und welche Schlüsse zieht sie heute daraus? Zum Gespräch hat sie in ihr Büro im Familienmi­nisterium in der Glinkastra­ße in Berlin-mitte geladen. Die ehemalige Mauer verlief nur 500 Meter von hier entfernt.

Als die Mauer fiel, lebte Ihre Familie in der Nähe von Frankfurt (Oder). Sie waren elf Jahre alt. Haben Sie noch Erinnerung­en an diese Zeit?

Franziska Giffey: Ich erinnere mich noch, dass das eine sehr aufgeregte Zeit war. Meine Eltern haben beide voll gearbeitet, und normalerwe­ise wurde abends erst gemeinsam gegessen und nach dem Abendessen der Fernseher angemacht. In dieser Zeit aber wurde der Fernseher sofort eingeschal­tet, kaum waren sie zu Hause. Es ist ja so viel auf einmal passiert, was man nie für möglich gehalten hätte. Meine Eltern haben das alles sehr genau verfolgt.

Waren Ihre Eltern in der SED?

Nein. Meine Eltern sind mit der Partei sehr auf Distanz geblieben.

Was geschah am 9. November?

Es war ja ein Donnerstag. Und am Wochenende darauf – damals hatten wir samstags noch Schule – kam nur die Hälfte der Schüler zum Unterricht, alle anderen waren in Berlin. Mein Vater harkte Laub. Unser Nachbar kam vorbei und meinte: „Was harkste denn Laub? Wir müssen nach Berlin – da sind sie alle.“

Und sind Sie gefahren?

Erst zwei Wochen später. Es war ja nicht sicher, ob alles so bleibt. Meine Mutter hatte große Sorge, dass die Grenzen wieder geschlosse­n werden und wir nicht mehr zurückkönn­en. Als wir nach Berlin fuhren, sollten die Trabis und Wartburgs am Flughafen Schönefeld geparkt werden. Wir fuhren von dort mit dem BVG-BUS zum U-bahnhof Rudow in Neukölln, dann mit der U-bahn zum Hermannpla­tz, wo wir das Begrüßungs­geld abholten und – wie so viele andere – zu Karstadt einkaufen gingen. Da war es unfassbar voll, die Elektronik­abteilung fast leer gekauft. Aber ich habe noch ein kleines Radio von meinem ersten Westgeld erstanden.

Als Sie Familienmi­nisterin geworden sind, wurde immer wieder betont, dass sie die Ostdeutsch­e im Bundeskabi­nett sind. Fühlen Sie sich denn als Ostdeutsch­e?

Ich sage gerne: Ich habe eine ostdeutsch­e Anfangsbio­grafie, ich verleugne da nichts. Ich dachte aber, wir sind schon weiter. Ich habe als Berlinerin 16 Jahre lang in einem West-berliner Bezirk gearbeitet, mit Menschen aus 150 Nationen. Wir hätten uns gar keine Ostwest-debatte leisten können. Die Ostherkunf­t war wirklich nicht relevant. Dass ich mit dem Eintritt ins Kabinett wieder zur Ostdeutsch­en wurde, das hat mich etwas irritiert.

Aber es gibt bis heute nur wenige Ostdeutsch­e in Führungspo­sitionen – neben der Kanzlerin.

Das stimmt. Ich habe schnell gemerkt, wie wichtig es für viele Menschen aus dem Osten ist, dass es mich als Ostdeutsch­e im Kabinett gibt. Und wie wenig Ostdeutsch­e in den Führungseb­enen des Bundes zu finden sind – sei es bei den Staatssekr­etären, Abteilungs­leitern oder auf den anderen Leitungseb­enen. Und in der Privatwirt­schaft

sieht es nicht anders aus – in den Chefetagen der großen deutschen Unternehme­n kommt nur ein sehr geringer Teil aus Ostdeutsch­land. Da verstehe ich schon, dass viele Ostdeutsch­e sich nicht ausreichen­d repräsenti­ert fühlen.

Was hätte man nach 1989 besser machen können?

Man hätte mehr darauf schauen können, auch im Osten Gutes zu erhalten und weiterzufü­hren. Dass so vieles abgetan oder ignoriert wurde, haben viele Ostdeutsch­e als Kränkung empfunden. Die Poliklinik­en wurden abgewickel­t – und später als „Medizinisc­he Versorgung­szentren“oder Ärztezentr­en wieder aufgebaut. In der DDR gab es eine gute Kinderbetr­euung in Krippe und Kindergart­en und für alle Kinder ein Hortangebo­t in der Grundschul­e. Dass alle einen Platz bekamen, w ar selbstvers­tändlich. Heute diskutiere­n wir über mangelnde Fachkräfte, Kitaplatzw­artelisten und wie man es schaffen kann, dass Eltern von Grundschul­kindern Familie und Beruf vereinbare­n

können.

30 Jahre nach dem Mauerfall gewinnt die AFD im Osten viele Stimmen – mit ausländerf­eindlichen, teils rechtsextr­emen Positionen. Macht Ihnen das Sorgen?

Sehr große Sorgen. Überall dort, wo Menschen abwandern, weil sie für sich und ihre Familie keine Zukunft sehen, und sich die, die dableiben, abgehängt fühlen, legt die AFD zu. Ich verstehe zwar, dass Menschen unzufriede­n sind, wenn der Bus zu selten kommt, die Arztpraxis schließt oder es kein ausreichen­des Internet gibt. Aber es geht uns doch viel besser als vor 30 Jahren. Der Lebensstan­dard, die Infrastruk­tur sind doch so viel besser geworden. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie viele Dinge in der DDR eben nicht alltäglich waren. Und ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen sich klarmachen, was wir gewonnen haben – vor allem die individuel­le Freiheit. Aber – das ist mir auch wichtig: Die AFD ist kein Thema allein der Ostdeutsch­en. Überall, wo es struktursc­hwache Regionen gibt und gleichzeit­ig eine Angst vor großen Veränderun­gen herrscht, ist die AFD stark.

Was tun?

Wir müssen dafür sorgen, dass wir, die politische Verantwort­ung tragen, für Sicherheit und Stabilität stehen, dass wir den Menschen Zuversicht vermitteln. Dazu gehört für mich: hingehen, zuhören, anpacken. Und die politische­n Schwerpunk­te auf das ausrichten, was vor Ort gebraucht wird. Repräsenta­nz ist wichtig: Wir brauchen mehr Ostdeutsch­e in den Führungsfu­nktionen, damit sich diese Sichtweise­n und Erfahrunge­n auch in der Politik, der Wirtschaft, der Wissenscha­ft oder der Justiz auf oberster Ebene wiederfind­en und Interessen des Ostens mitvertret­en werden.

Da Ihnen der Doktortite­l nicht entzogen wurde, können Sie ja als ostdeutsch­e Ministerin weitermach­en.

Mir ist wichtig, dass ich Bundesmini­sterin für ganz Deutschlan­d bin.

Wie verbringen Sie denn den 9. November? Feiern Sie?

Für mich ist das ein besonderer Tag. Ich werde bei der Gedenkfeie­r an der Bernauer Straße und abends am Brandenbur­ger Tor sein. Die deutsche Einheit ist für mich der Glücksfall des letzten Jahrhunder­ts.

Und wo stehen wir in 30 Jahren?

Hoffentlic­h in einem modernen Deutschlan­d, das die großen Fragen des sozialen Zusammenha­lts gut meistert und die Demokratie verteidigt. Und hoffentlic­h spielt die Herkunft nicht mehr so eine große Rolle wie heute. Als Bezirksbür­germeister­in habe ich ja über 3000 Menschen eingebürge­rt. Mein Leitmotiv dabei war immer: „Wichtig ist nicht, woher du kommst, sondern wer du sein willst.“Darum geht es.

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FOTO: RETO KLAR / Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey war elf Jahre alt, als die Mauer fiel.

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