Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
„Wir sind das Original“
Eine Begegnung mit vier Frauen, die im Dezember 1989 in Erfurt der Stasi trotzten
Ihre Geschichte ist oft und ausführlich erzählt. Fünf Erfurter Frauen initiierten Anfang Dezember 1989 die Besetzung der Erfurter Stasi-dienststelle, um die Vernichtung der Akten zu stoppen. Es war die erste Übernahme durch Bürgerbewegte in der DDR. Vielerorts folgten Gleichgesinnte dem Vorbild von Claudia Bogenhardt, Tely Büchner, Sabine Fabian, Kerstin Schön und Gabriele Stötzer. Ihr Mut ist heute Teil des Geschichtskanons der friedliche Revolution im Osten Deutschlands.
30 Jahre später treffen sich vier von ihnen in der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße. Was bleibt von der gemeinsamen Vergangenheit, wie sehen sie sich in den Auseinandersetzungen der Gegenwart? Schon bald nach der Wende führten ihre Wege in unterschiedliche Richtungen. Gründe dafür waren Enttäuschungen über unerfüllte Visionen, aber auch neue Möglichkeiten und Ziele. In der kleinen Runde berichten sie darüber. Gabriele Stötzer und Tely Büchner haben in den frühen 1990ern das unabhängige Erfurter Kunsthaus aufgebaut. Alter DDR-FILZ trieb Erstere aus der Stadt, heute verbindet sie ihre betont weibliche Kunst wieder von hier aus mit kreativen Frauen in der ganzen Welt.
Letztere sieht im Engagement in der Stadtfraktion der Grünen eine Chance, sich weiter in die Gesellschaft einzumischen. Mit Gleichgesinnten revitalisiert sie gerade das Erfurter Schauspielhaus zur ersten Thüringer Kulturgenossenschaft. „Verpasste Chancen sind ein Teil der Wahrheit, der andere Teil sind Möglichkeiten. Wie sich die Gesellschaft entwickelt, liegt auch an uns“, sagt Tely Büchner.
Sabine Fabian und Kerstin Schön blieben nach der Wende zunächst in der politischen Frauenarbeit aktiv – die eine als erste und einzige Amtsleiterin für Gleichstellung, die andere als Vorsitzende im Gleichstellungsausschuss. Bis sie resigniert aufgaben und Deutschland für lange Zeit verließen. Von ihrer weltweiten Suche kehrten sie mit der Idee einer alternativen Wohngemeinschaft nach Thüringen zurück. Bis heute treibt beide das Thema der organisierten sexualisierten Gewalt und die Hilfe für Betroffene um, auch um den Preis der eigenen Existenz. Über Schön schwebt der Vorwurf, sie habe Menschen der Freiheit beraubt, ein Prozess ist seit zwei Jahren nur ausgesetzt. Sie sieht darin ein Indiz für den Einfluss weitreichender Täterstrukturen.
So unterschiedlich die Geschichten, Lebensentwürfe und Schicksale der vergangenen 30 Jahre sind, die sich die Frauen erzählen – für Tely Büchner sind sie Ausdruck starker Persönlichkeiten. Sie seien damals aktiv gewesen und sind es bis heute, mit einer Intensität, der sich niemand verwehren könne. Vieles sei erst in der neuen Gesellschaft möglich geworden, im alten System wäre man damit im Knast gelandet. „Wichtig ist, nicht aufzugeben. Darauf können wir uns gegenseitig verlassen. Wir werden nie die Hände in den Schoß legen und sagen, was gerade passiert, ist uns egal“, sagt Büchner.
„Wir sind keine leichten Frauen und wir waren es nie. Sonst hätten wir nicht erreicht, was wir erreicht haben“, fügt Gabriele Stötzer hinzu. Das Unlösbare hinzukriegen, eine sie noch heute. Wie sie hat sich auch Kerstin Schön nach der Wende mit Stasi-mitarbeitern getroffen, um Vergangenheit und Gegenwart besser zu verstehen. „Wir waren alle Teil eines Systems. Nur wer über Verletzungen reflektiert und Verantwortung übernimmt, kann Diktaturen, auch die des Geldes, verhindern“, sagt Schön. Sie und Sabine Fabian vermissen bei Themen, die wehtun oder unbequem sind, wie die organisierte Sexsklaverei, die Bereitschaft hinzusehen und zuzuhören. „Das Schweigen macht es den Tätern leicht“, sagt Fabian.
Bleibt die Sorge über den Zustand der Gesellschaft im 30. Jahr der Einheit. Als Schriftstellerin sei sie schockiert, dass eine rechtsradikale Partei meint, für Meinungsfreiheit kämpfen zu müssen, sagt Gabriele Stötzer. „Wir sind das Original, wir haben die Waffen zum Schweigen gebracht. Wir dürfen nicht zulassen, dass man uns unsere Worte und Wahrheiten aus dem Mund nimmt.“Kerstin Schön erklärt, sie beanspruche nicht, die eine Lösung zu finden, habe aber noch den Wunsch, sich zu beteiligen. Reden will sie mit allen, „ich habe Feindbilder satt“, sagt sie.
Für Tely Büchner ist wieder wie vor 30 Jahren Zivilcourage gefragt. Dafür will sie weiter Räume finden, reale wie die Kulturgenossenschaft, aber auch Denkund Freiräume. In der Politik vertraut sie auf die starke Rolle der Frauen, im Frauenstadtrat rede man darüber, was Frauen wichtig finden und welche Rahmenbedingungen es braucht, sie aktiver in Entscheidungen einzubinden. Bei menschenverachtenden Positionen hört ihre Gesprächsbereitschaft aber auf.
„Wir werden nie die Hände in den Schoß legen und sagen, was gerade passiert, ist uns egal.“
Tely Büchner, eine der Besetzerinnen der Erfurter Stasi