Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
Es begann mit sieben Unterschriften fürs Neue Forum
Wie aus den Friedensgebeten in der Geraer Kirche St. Elisabeth große Demos wurden
habe sich vor Parteichef Honecker rechtfertigen wollen, erklärt sich Richter die Fälschungen.
„Bei 85 Prozent wäre doch sofort die Frage gekommen, was ist denn bei euch los.“Mit den sinnlosen Manipulationen sei das letzte bisschen Vertrauen der Menschen in diesen Staat und in dieses System endgültig zerstört worden, sagt Richter. Die logische Folge war die sich rasant ausweitende Massenflucht in den Westen. „Bei mir fehlten plötzlich immer häufiger Schüler im Unterricht“, erinnert sich Richter. Auf seine Frage, wo die denn seien, kam die Antwort – auf Drei-städte-tour von Budapest über Wien nach München, sagt Richter. Eines Tages hätten dann überraschend seine damaligen Nachbarn geklingelt und der Familie Richter die Grünpflanze gebracht, vor der Flucht in den Westen. Rückblickend sei er sehr froh darüber, dass diese turbulente Zeit friedlich geblieben ist.
Bei Betrachtungen der Wendeereignisse in der DDR scheint Ostthüringen häufig im Schatten von Erfurt oder Leipzig zu stehen. Zu Unrecht, findet Michael Stolle, damals Kapellmeister und Mitgründer des Neuen Forums in Gera. „Situation und Stimmung waren in der DDR überall gleich. Es ging um Meinungsund Reisefreiheit, um den Schutz der Umwelt. Die friedliche Revolution machte vor keiner Region halt“, sagt er. Jena ist zu Ddr-zeiten ein Zentrum der intellektuellen Opposition mit Akteuren wie Jürgen Fuchs, Roland Jahn oder Lutz Rathenow. Michael Beleites machte in seiner Untergrundzeitschrift „Pechblende“nicht zuletzt auf die verheerenden gesundheitlichen Folgen der Uranförderung im Wismutgebiet aufmerksam.
Im September 1989 ist schließlich Gera einer der ersten Orte in Thüringen, in dem sich eine Unterstützergruppe für die neu gegründete Oppositionsbewegung
Neues Forum (NF) formiert. Er sei damals mit Bärbel Bohley bekannt gewesen, erzählt Michael Stolle. Am 18. September 1989 wurde ihm eine Kopie des Gründungsaufrufs beim Aufenthalt in Halle in die Hand gedrückt. Mit Schreibmaschine und Kohlepapier vervielfältigt, sei das Papier lauffeuerartig von Hand zu Hand gegangen.
In ersten Gesprächen habe man schnell Unterstützer gefunden. Nur wenige Tage später wurde es dann auch ganz konkret.
Schon länger fanden in der katholischen Kirche St. Elisabeth Friedensgebete statt. Am Ende des Treffens am 21. September 1989 legte Stolle die Forderungen des Neuen Forums dort erstmals öffentlich aus, die spontan von sieben Menschen unterschrieben wurden. „Für mich ist das die Geburtsstunde einer Bürgerbewegung in Gera“, so der heute 72-Jährige. In seinem Tagebuch der Wende hält er den denkwürdigen Moment mit den Worten fest: „Am Donnerstag, es ist der 21. September, die ersten Geraer Unterschriften unter das Forumpapier. Nach dem Friedensgebet in der katholischen Elisabeth-kirche Zusammensein und Diskussion mit Gleichgesinnten, Kritischen, Nachdenklichen. Nach meiner Unterschrift weitere sechs – ein Bann ist gebrochen. Nun gibt es auch in Gera eine Oppositionsgruppe!“
Tatsächlich nehmen von diesem Moment an die Entwicklungen auch in der Ostthüringer Bezirksstadt unaufhaltsam ihren Lauf. Am 25. September meldete sich die Bewegung offiziell bei den Behörden an, drei Tage später unterschreiben bei einer erneuten Diskussion 50 Anwesende. Unter ihnen ist auch der heute 78-Jährige Geraer Allgemeinmediziner Bernhard Gantenbein. Sein Engagement kommentiert er mit den Worten: „Ich bin es meinen Kindern schuldig, etwas zu tun“. Als Vertreter des NF gehören Stolle und Gantenbein ab Mitte 1990 einige Zeit der damals noch aus 100 Mitgliedern bestehenden, erstmals frei gewählten Stadtverordnetenversammlung an, Letzterer als deren erster Präsident.
Zunächst formieren sich im Oktober 1989 auch in Gera die Massen. Eng verbunden ist die Entwicklung mit dem Namen von Roland Geipel. In der DDR hatte der Pfarrer der Johanneskirche viel mit Menschen zu tun, die sich im Zeichen des verbotenen Friedenssiegels „Schwerter zu Pflugscharen“sammelten oder ausreisen wollten. Nach den ersten Großdemos in Leipzig sieht auch er die Zeit gekommen, auf die Straße zu gehen. Bei der ersten Demonstration am 26. Oktober in Gera sind es noch einige Hundert, am 9. November 1989 20.000, die folgen und Freiheiten und Reformen fordern.
Auch in anderen Ostthüringer Orten nimmt die Wende Fahrt auf. Am 2. Oktober werden in Rudolstadt Unterschriften für das Neue Forum gesammelt.. Am 6. Oktober informieren sich in Saalfeld 1500 Bürger in der von der Polizei umstellten Johanneskirche über die Forderungen der neuen Oppositionsbewegungen. Am 8. Oktober beginnen in Jena tägliche Fürbittandachten für inhaftierte Demonstranten. Am 19. Oktober ziehen in Zeulenroda 2000 Demonstranten bei der ersten Demonstration von der Dreieinigkeitskirche vorbei an Stasi,
Polizei und SED. Am 23. Oktober finden in Greiz Friedensgebete gleichzeitig in vier Kirchen statt. Zur ersten Demo in Pößneck erscheinen 300 Menschen.
Dabei gerät auch im Ostthüringer Raum mehr und mehr die Stasi ins Visier der Protestierenden. Dem Beispiel der Besetzung der Bezirksdienststelle in Erfurt am 4. Dezember folgt unmittelbar die Übernahme der Kreisdienststelle in Saalfeld durch Vertreter des Neuen Forums und anderer Oppositionsgruppen.
In Gera weiß Roland Geipel damals von den 22 vollen Waffenkammern in der Stasizentrale. Als am 4. Januar 1990 eine Gruppe das Nordtor aufbrechen will, stellt er sich ihr in den Weg. Erst sollen die Waffen gesichert werden. Am gleichen Abend übernimmt er mit Bürgerbewegten, unter ihnen Roland Jahn, das Gebäude. „Beim Verladen der Waffen sah ich Offiziere weinen. Auch sie haben besonnen reagiert und Schlimmeres verhindert“erinnert er sich.
Am Freitag wurde Roland Geipel zum Ehrenbürger von Gera ernannt. Mit dabei war Michael Stolle. Gefragt, was er 30 Jahre nach der Wende von der Gesellschaft erwartet, sagt Stolle: „Ich wünsche mir, dass wir die erkämpfte Meinungsfreiheit bewahren, von Gewalt, Diffamierungen und Hass absehen und Meinungsverschiedenheiten würdevoll und friedlich austragen.“