Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Vera Lengsfeld und der Westberlin­er Rentnercho­r

- Von Frank Schauka

Am 640. Tag nach ihrem „Rausschmis­s“aus der DDR stand Vera Lengsfeld am Grenzüberg­ang Friedrichs­traße und zeigte ihren Pass. Der Grenzer war irritiert. So begann für Thüringens wohl bekanntest­e Bürgerrech­tlerin der 9. November vor 30 Jahren.

Vera Lengsfeld aus Sondershau­sen, 37 Jahre alt, stasihafte­rprobt, wollte, aus Cambridge kommend, für einen Tag in die DDR, zu Volksbildu­ngsministe­rin Margot Honecker, um ein Problem an der Ostberline­r Ex-schule ihres ältesten Sohnes zu lösen.

„Der Grenzer starrte auf meinen Pass“, erinnert sich die Dissidenti­n. Dann starrte er auf den Computer und tippte wie wild. Er rief den Vorgesetzt­en an. Der kam, starrte und telefonier­te. Der Chef erschien: Das ist ein schwierige­r Fall. Kommen Sie mal weg vom Schalter in ein Zimmer. „Nö“, sagte sie. „Ich geh hier nicht weg.“

Hinter ihr stauten sich Westrentne­r, die gen Osten wollten. Einer rief: Weil die ihre Papiere nicht in Ordnung hat, müssen wir warten!

„Irgendwann habe ich mich umgedreht, mich vorgestell­t und gesagt: Meine Papiere sind in Ordnung. Die wollen mich hier nicht reinlassen.“

Reinlassen!, rief der Erste. Reinlassen!, der Zweite. „Dann rief der ganze Rentnercho­r: Reinlassen! Reinlassen! Reinlassen!“

Ein Grenzer pfefferte den Pass zu ihr zurück: Geh’n Se! Geh’n Se!, herrschte er sie an. Sie hatte es geschafft.

„Aber als die eiserne Tür hinter mir zufiel, und ich stand auf der Ostseite vom Bahnhof Friedrichs­traße, kriegte ich eine Panikattac­ke. Was hast du gemacht! Die lassen dich nie wieder raus!“

Dann lief alles ungeplant: Auf das neue Ausreisevi­sum musste sie bei der Polizei stundenlan­g warten. Nach der Schikane fiel der Protestbes­uch im Ministeriu­m aus. Stattdesse­n: Abendessen bei Freunden in Ostberlin. Als Schabowski „unverzügli­ch“sagte, überschlug sich alles. Lengsfeld – die am 8. Februar 1988 ausgewiese­n wurde, die am 8. November 1989 in Westberlin einen Vortrag hielt, die am 9. November 1989 Margot Honecker heimsuchen wollte – erlebte die Grenzöffnu­ng an der Bösebrücke plötzlich mit Freunden.

Ohne Mauerfall, sagt sie, wäre sie „garantiert eine glückliche Cambridge-professori­n geworden“. Die Dissertati­on „The Holocaust and the value of life“war fast fertig. Ob sie bereue, nicht in England geblieben zu sein. „Diese Vereinigun­g war ja eine Zeit, in der man wirklich was bewegen und gestalten konnte. Dabei gewesen zu sein, ist einfach toll gewesen.“

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VERA LENGSFELD KAM IM JANUAR 1988 NACH DER TEILNAHME AN EINER DEMONSTRAT­ION IN STASIHAFT UND WURDE IM FEBRUAR 1988 AUSGEWIESE­N. FOTO: ARCHIV LENGSFELD

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