Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
„Wir wollen die Regierung führen“
Die Spd-vorsitzkandidaten Saskia Esken und Norbert Walter-borjans nennen als Wahlziel 35 Prozent – und stellen Bedingungen für die Fortsetzung der Koalition
Wer wird Nachfolger von Andrea Nahles an der Spitze der SPD? In der Stichwahl treten die Bundestagsabgeordnete Saskia Esken und der frühere Nrw-finanzminister Norbert Walter-borjans gegen Vizekanzler Olaf Scholz und die Brandenburger Landtagsabgeordnete Klara Geywitz an. Walterborjans begründet, warum er doch für einen Spd-kanzlerkandidaten ist.
frau esken, Herr Walter-borjans, die bundesregierung hat sich zur Halbzeit ein gutes Zeugnis ausgestellt. Wie fällt ihre bilanz aus?
saskia esken: Die Bilanz der Regierung ist solide, wenn man sie auf den Koalitionsvertrag bezieht, in dem wichtige sozialdemokratische Vorhaben festgehalten sind. Da sind etliche Punkte in unseren Ministerien gut abgearbeitet worden. Der große Wurf ist es dennoch nicht geworden. Da war der Koalitionspartner im Weg. Und an manchen Stellen war die Zusammenarbeit lausig, wenn ich beispielsweise an den sogenannten Masterplan zur Verschärfung der Asylpolitik von Herrn Seehofer denke. Das hat das Bild der Koalition nach außen geprägt.
Was leiten sie daraus ab? bleibt die spd in der Koalition, wenn sie gewinnen – oder nicht?
norbert Walter-borjans: Es gibt Knackpunkte, an denen sich entscheidet, ob eine Fortsetzung der Koalition vertretbar ist. Die Grundrente ist so ein Knackpunkt.
sind sie mit dem Kompromiss zufrieden, den die Koalition jetzt gefunden hat?
Walter-borjans: Mit dem Kompromiss zur Grundrente kann man fürs Erste leben. Die Vermögensprüfung als Bedingung für einen Rentenanspruch nach 35 Jahren Arbeit ist raus. War diese Quälerei nötig? Beim Kinderfreibetrag oder bei Steueranreizen für Elektroautos kämen CDU und CSU nie auf die Idee einer Bedürfnisprüfung. Ein zweiter Knackpunkt: Das Klimapaket ist sozial ungerecht und zu wenig ambitioniert – das muss nachgebessert werden.
Und zwar wo?
Walter-borjans: Wir sollten den
Co2-preis wirksam hochsetzen und die Einnahmen als Prämie pro Kopf an die Bevölkerung zurückzahlen. Mindestens 90 Prozent der Menschen würden dabei gewinnen. Und drittens brauchen wir schnelle und massive Investitionen – weil wir einen Sanierungsstau haben und die Konjunktur stabilisieren müssen. Das stellt die schwarze Null im Bundeshaushalt infrage. Bei diesen Themen tut sich ein ziemlich großer Spalt zwischen Union und SPD auf. Unser Parteitag muss diskutieren, ob und wie lange der Treibstoff für die große Koalition noch reicht.
esken: Ich füge zwei wichtige Themen hinzu, und da wird es noch fraglicher, ob das mit der Union gelingt: Wir müssen dringend etwas bei den niedrigen Einkommen tun und bei denen, die ohne Arbeitnehmerrechte erwerbstätig sind. Immer mehr Menschen arbeiten doch hochgradig prekär, in unsicheren Arbeitsverhältnissen oder scheinselbstständig – und außerdem lausig bezahlt. Wenn wirklich ein Abschwung kommt, haben wir mit großen Verwerfungen zu rechnen. Wir sorgen für sozialen Zusammenhalt, wenn wir den Mindestlohn auf zwölf Euro anheben und dafür sorgen, dass wieder möglichst viele in Tarifbindung kommen.
sie wollten eine weitere Koalitionsbedingung stellen.
esken: Wir blamieren uns in der ganzen Welt, wenn wir es dem Markt überlassen, Netzzugang für die Menschen zu schaffen. Dieser sogenannte marktgetriebene Ansatz ist gescheitert. Das zeigt sich vor allem auf dem Land, wo der Empfang oft so schlecht ist, dass Anrufe unterbrochen werden. Von Homeoffice gar nicht zu reden. Ganz schlimm! Netzzugang ist Daseinsvorsorge, so wichtig wie Wasser und Strom. Darum muss sich der Staat kümmern. Unser Ansatz ist klar: Unser Wohlstand ist nur zu halten, wenn wir an jeder Milchkanne ausreichenden Empfang gewährleisten können. Aber ich habe starke Bedenken, ob wir all das mit der Union hinbekommen.
sie haben der spd nahegelegt, auf einen Kanzlerkandidaten zu verzichten. Warum?
Walter-borjans: Moment! Ich habe gesagt: Wenn wir beide Vorsitzende werden, bin ich ziemlich sicher, dass die SPD relativ schnell bessere Umfragewerte bekommt. Wir können einen Stimmungsumschwung erzeugen. Und wenn sich vor der Bundestagswahl abzeichnet, dass die SPD eine Regierung führen kann, werden wir natürlich sagen, wer Kanzler werden soll.
„Das Klimapaket ist nicht ambitioniert und sozial ungerecht.“
Norbert Walter-borjans
in den Umfragen liegt die spd stabil unter 15 Prozent.
Walter-borjans: Das ist dramatisch zu niedrig und der Sozialdemokratie nicht würdig. Die Leute würden verdutzt gucken, wenn wir da einfach nur einen Kanzlerkandidaten nominieren. Wir wollen Vertrauen zurückgewinnen, ein klares Programm benennen und so wieder zu Kräften kommen. Dann wollen wir natürlich auch die Regierung führen. esken: Im vergangenen Bundestagswahlkampf hat die SPD mit der Selbstausrufung eines Ganz-bestimmt-kanzlers wenig Erfolg gehabt und viel Häme auf sich gezogen.
Welches ergebnis trauen sie der spd bei der nächsten bundestagswahl zu?
esken: Ich glaube, dass die Hoffnung auf eine starke Sozialdemokratie, die für soziale Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt steht, in der Bevölkerung ein Potenzial von gut 35 Prozent hat. Dieses Potenzial können wir auch heben. Doch uns ist auch klar, dass der Prozess des Vertrauensaufbaus keiner sein wird, der bei der nächsten Bundestagswahl schon abgeschlossen ist.