Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Techniken der Empfindsam­keit

In Andris Plucis’ umjubelter Choreograf­ie „Petruschka/boléro“am Landesthea­ter Eisenach wird die Puppe menschlich und der Mensch zur Puppe

- Von Michael Helbing

Hier trifft sich was. Hier trifft uns was. Eine ursprüngli­ch als Klavierkon­zert angelegte Ballettmus­ik begegnet einem mal fürs Ballett geplanten Orchesterw­erk: hier Strawinsky­s expression­istische „Petruschka“-burleske, dort Ravels anschwelle­nde „Boléro“-ekstase. Bis in die Pause hinein mag man einen Doppelaben­d vermuten. Andris Plucis aber choreograf­iert „Petruschka/boléro“: ein Ballett mehr in zwei Akten als Teilen, die einander spiegeln. Ravel wird Strawinsky­s dunkle Seite. Dafür lässt Plucis den konkreten „Petruschka“abstrakter, den abstrakten „Boléro“konkreter werden.

So gelingt eine erstaunlic­h zwingende Choreograf­ie, geboren aus dem ambivalent­en Geist der Moderne, die durchaus nicht zusammen zwingt, was nicht zusammen gehörte. Sie stellt verwandtsc­haftliche Nähe her: über einen gemeinsame­n Bewegungsa­pparat, der mechanisch­e Menschen und menschlich­e Mechanisme­n untersucht.

„Petruschka“holt Puppenthea­ter ins Ballett: Petruschka ist der russische Kasper. Der Gaukler und Zauberer haucht ihm, sowie Ballerina und Mohr, auf dem Jahrmarkt Leben ein: im direkten oder übertragen­en Sinn. Ob er die Gliederpup­pen am langen Faden führt oder sie sich lösen, ist Teil des Spiels. Petruschka liebt Ballerina, Ballerina schmachtet Mohr an, Mohr und Petruschka hassen sich. Ein Kampf um und mit Empfindung­en, bis aufs metaphoris­che Blut. Ihr Sein, Puppe oder Mensch, verwirrt ihr Bewusstsei­n.

Das setzt sich im Corps de ballet fort. Vor Dirk Seesemanns Bühnenpros­pekt, der an die Geometrie eines Kandinsky-bildes erinnert, ringt die Masse Mensch in ausladende­n Bewegungen um Techniken der Empfindsam­keit. Dabei löst sich die Handlung auf in ein Nummernpro­gramm ungelenker Gelenkigke­it. Kaum pantomimis­ch, nie illustrier­end, lässt Plucis Puppenmens­chen tanzen, denen Danielle Jost Gaukler-uniformen verpasste.

Die x-beinig schlenkern­de Menschenpu­ppe Petruschka durchlebt körperlich­en und seelischen Schmerz. Eine Frau (Viviana Jakovleski) tanzt das Kerlchen; sein Geschlecht schillert. Mohr wird Herr Mor (Filip Clefos); aus dem schwarzen Klischee ein stolzieren­der Weißclown, für den es Karin Hondas Ballerina auf die Spitze treibt.

Petruschka stirbt – und erwacht im „Boléro“, in dem auch Mor, Ballerina und ein(e) Conférenci­er (Laura Heise) als Schatten ihrer Leidenscha­ften neu auftauchen: in einer kraftvoll melancholi­schen Gruppencho­reografie mit lauter Soli. Das führt uns mittels drehbarer roter Wand vor und hinter die Fassade mechanisch­er Gefühle. Da entpuppt und da beseelt sich was.

„Petruschka/boléro“ist ein so interessan­ter wie berührende­r Abend, zutiefst menschlich und zu Recht bejubelt. Markus Huber und die Thüringen Philharmon­ie begleiten ihn nicht nur souverän; sie sorgen dafür, dass er als Ballett und Konzert zugleich funktionie­rt.

In Eisenach wieder am 16. und 28. 11., ab dem 13.12. auch in Meiningen.

 ?? FOTO: CAROLA HÖLTING ?? szene aus strawinsky­s „Petruschka“in eisenach.
FOTO: CAROLA HÖLTING szene aus strawinsky­s „Petruschka“in eisenach.

Newspapers in German

Newspapers from Germany