Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
„Und niemand schert sich um uns“
Die Menschen wissen nicht, was mit ihnen passiert. Sie schlafen auf der Straße und suchen Schutz unter Bäumen
Alles, was Maqbool Hossain noch hat, stopft er in den kleinen Müllcontainer. Plastiktüten mit Decken, ein paar Kleidungsstücke, einen Schlafsack, eine Kinderkarre, ein paar Schüsseln, Flaschen mit Wasser, einen Topf. Der Container ist aus Metall, mit kleinen Rädern, Hossain hat ihn ausgewaschen an einer der wenigen Leitungen, aus denen noch Wasser fließt. Er hat den Dreck weggespült, die Asche.
Jetzt schiebt er den Müllcontainer über den Asphalt, die Straße runter, weg vom Lager, raus aus der „Hölle“, wie Hossain sagt. Sein drei Jahre alter Sohn hockt oben, wie ein Steuermann auf einem rostigen Kutter, versunken in den Plastiktüten und Decken. Wäre doch alles nur ein Spiel.
Aber Maqbool Hossain weiß an diesem Nachmittag auf der griechischen Insel Lesbos noch nicht, wo er schlafen soll. Er sucht einen Platz für die Nacht, ein neues Lager. Für sich, seine drei Kinder und die schwangere Frau Shaheda. Seit drei Tagen habe er nichts gegessen, sagt Maqbool Hossain. Sein Sohn habe Fieber und Durchfall.
Vor 17 Monaten floh die Familie mit dem Schlauchboot
Hossain ist ein stämmiger Mann, 30 Jahre alt, aus Pakistan sind er und seine Familie geflohen, über den Iran, die Türkei, mit dem Schlauchboot nach Lesbos, in die EU. 17 Monate ist das her. Zuletzt haben sie in einem Zelt in dem Flüchtlingscamp auf der Insel gelebt, im „Level 3“, wo viele Familien mit Kindern ausharrten. Doch in dieser Woche brannte „Level 3“ab.
„Moria is finished“, sagen viele der Flüchtlinge hier. „Moria ist vorbei.“Vermutlich war es Brandstiftung, davon gehen die griechischen Behörden aus. Es deckt sich mit Berichten von Augenzeugen. Die Flammen brachen an unterschiedlichen Stellen aus. Der Wind war stark, das Feuer rasend schnell.
Jetzt sind mehr als zwei Drittel des Lagers vernichtet, Eisenstangen der Zelte ragen wie Gerippe aus der Asche, Dixi-klos sind von der Hitze geschmolzen. Die Luft riecht nach verbrannter Erde. Seit zwei Tagen gehen die Bilder um die Welt. Ein brennender Slum, mitten in Europa.
In Deutschland protestieren nun Tausende Menschen für die Aufnahme von Geflüchteten aus dem
Camp. Die Bundesregierung und vor allem Innenminister Horst Seehofer stehen unter Druck, die Eufunktionäre in Brüssel beraten, was zu tun ist.
Für Maqbool Hossain ist das alles an diesem Tag weit weg. Er schwitzt unter der griechischen Sonne, schiebt den Müllcontainer vor sich her.
Die Straße von Moria zur Küste der Insel ist knapp zwei Kilometer lang. Links und rechts wachsen Olivenbäume auf den Hügeln, hier und da stehen Lagerhallen, ein paar Felder sind umzäunt. Und überall hocken, liegen, laufen Flüchtlinge. Manche harren auf Matratzen im Schatten einer Mauer aus, andere sitzen unter Bäumen im Kreis, haben Planen aufgespannt. Menschen kochen über Öfen aus Ziegelsteinen, andere waschen ihre Kleidung am Straßenrand.
Etwa 12.000 Menschen sollen zuletzt im Lager Moria gelebt haben, vielleicht sogar 14.000. Gebaut wurde es in der Hochphase der europäischen Asylkrise für gut 3000 Geflüchtete. Wie Hossains Familie irren nun viele in der Umgebung von Moria umher. Die Polizei hat die Wege zur Hauptstadt der Insel abgeriegelt. Sie lassen die Menschen auf der Straße.
Maqbool Hossain sagt, er wisse nicht, wie es weitergehe. Letzte Nacht haben sie unter einem Olivenbaum geschlafen.
Die Polizisten auf der Straße schweigen und sagen ihm nur: „Ihr müsst warten.“Auf Nachfrage erklären manche der griechischen Beamten, dass sie auch nicht wüssten, was nun passiere. Mitarbeiter der Eu-asylbehörden sind vor Ort nicht mehr zu sehen, von den Helfern der Flüchtlingsorganisationen laufen nur wenige durch die Massen, verteilen Wasser und Decken.
Denn Wasser gebe es kaum, das Essen gehe zur Neige, der Strom für die Handyakkus auch, sagen viele der Flüchtlinge. „Wir haben alles verloren. Und niemand schert sich um uns“, sagt ein Afghane. „Es ist schlimmer als ein Gefängnis.“
Die meisten Menschen kommen aus dem Land am Hindukusch, aber einige auch aus Somalia, Eritrea, dem Kongo, Syrien. Bisher haben die Griechen nun einige Hundert minderjährige Flüchtlinge von Lesbos ausgeflogen. Kommen sie irgendwann nach Deutschland? Viele wollen dorthin. Hoffnung haben nur noch wenige. Eher glauben sie, dass wieder nichts passiert.
Denn die Not in Moria ist nicht neu. Seit Jahren sind die Bedingungen katastrophal, fehlt es an Medikamenten und Ärzten. Viele Geflüchtete sind älter, viele Frauen schwanger, dann wieder Kinder, die operiert werden müssen. Die Corona-pandemie, sagen die Menschen nun, sei einfach zu viel für einen Ort wie Moria gewesen.
Wo sind die an Corona erkrankten Flüchtlinge?
Die Lage sei eskaliert, als die Behördenmitarbeiter eine Quarantäne verhängt hätten, berichtet Abdi, der einen Kiosk direkt gegenüber vom Lager betreibt. Viele im Lager wurden in den vergangenen Wochen auf das Coronavirus getestet. Kurz vor dem großen Brand kam die Nachricht, dass 35 Menschen infiziert sind. Und wo die meisten der Corona-erkrankten jetzt, nach dem Brand, sind, ist laut Medienberichten unklar.
Afghanen und Somalier hätten in Quarantäne gemusst, sagt Abdi. „Aber es war allen unklar, wer isoliert wird und wie lange.“Dann sei die Unruhe gewachsen. Am späten Dienstagabend brannte das Lager.
Die Unruhe war gewachsen, allerdings nicht nur im Lager. Auch unter den Einwohnern der Insel. Viele sind wütend auf die EU, auf die griechische Regierung. Sie fühlen sich alleingelassen mit den Tausenden Geflüchteten. Und jetzt, nach dem Brand, wissen auch die Menschen auf der Insel nicht, wie es weitergeht. Am Donnerstag protestierten einige von ihnen, blockierten Straßen nach Moria.
Der Ort ist zu einem Symbol geworden. Für das Scheitern der Euasylpolitik. Für eine humanitäre Katastrophe in Europa. Für Hilflosigkeit. Auf den Müllcontainer, mit dem Maqbool Hossain jetzt seinen letzten Besitz die Straße entlangschiebt, hat jemand „Moria“in blauer Farbe gemalt, darum ein Herz und einen Pfeil in Weiß. Als wäre das Lager ein Ort zum Verlieben.