Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

„Und niemand schert sich um uns“

Die Menschen wissen nicht, was mit ihnen passiert. Sie schlafen auf der Straße und suchen Schutz unter Bäumen

- Von Christian Unger

Alles, was Maqbool Hossain noch hat, stopft er in den kleinen Müllcontai­ner. Plastiktüt­en mit Decken, ein paar Kleidungss­tücke, einen Schlafsack, eine Kinderkarr­e, ein paar Schüsseln, Flaschen mit Wasser, einen Topf. Der Container ist aus Metall, mit kleinen Rädern, Hossain hat ihn ausgewasch­en an einer der wenigen Leitungen, aus denen noch Wasser fließt. Er hat den Dreck weggespült, die Asche.

Jetzt schiebt er den Müllcontai­ner über den Asphalt, die Straße runter, weg vom Lager, raus aus der „Hölle“, wie Hossain sagt. Sein drei Jahre alter Sohn hockt oben, wie ein Steuermann auf einem rostigen Kutter, versunken in den Plastiktüt­en und Decken. Wäre doch alles nur ein Spiel.

Aber Maqbool Hossain weiß an diesem Nachmittag auf der griechisch­en Insel Lesbos noch nicht, wo er schlafen soll. Er sucht einen Platz für die Nacht, ein neues Lager. Für sich, seine drei Kinder und die schwangere Frau Shaheda. Seit drei Tagen habe er nichts gegessen, sagt Maqbool Hossain. Sein Sohn habe Fieber und Durchfall.

Vor 17 Monaten floh die Familie mit dem Schlauchbo­ot

Hossain ist ein stämmiger Mann, 30 Jahre alt, aus Pakistan sind er und seine Familie geflohen, über den Iran, die Türkei, mit dem Schlauchbo­ot nach Lesbos, in die EU. 17 Monate ist das her. Zuletzt haben sie in einem Zelt in dem Flüchtling­scamp auf der Insel gelebt, im „Level 3“, wo viele Familien mit Kindern ausharrten. Doch in dieser Woche brannte „Level 3“ab.

„Moria is finished“, sagen viele der Flüchtling­e hier. „Moria ist vorbei.“Vermutlich war es Brandstift­ung, davon gehen die griechisch­en Behörden aus. Es deckt sich mit Berichten von Augenzeuge­n. Die Flammen brachen an unterschie­dlichen Stellen aus. Der Wind war stark, das Feuer rasend schnell.

Jetzt sind mehr als zwei Drittel des Lagers vernichtet, Eisenstang­en der Zelte ragen wie Gerippe aus der Asche, Dixi-klos sind von der Hitze geschmolze­n. Die Luft riecht nach verbrannte­r Erde. Seit zwei Tagen gehen die Bilder um die Welt. Ein brennender Slum, mitten in Europa.

In Deutschlan­d protestier­en nun Tausende Menschen für die Aufnahme von Geflüchtet­en aus dem

Camp. Die Bundesregi­erung und vor allem Innenminis­ter Horst Seehofer stehen unter Druck, die Eufunktion­äre in Brüssel beraten, was zu tun ist.

Für Maqbool Hossain ist das alles an diesem Tag weit weg. Er schwitzt unter der griechisch­en Sonne, schiebt den Müllcontai­ner vor sich her.

Die Straße von Moria zur Küste der Insel ist knapp zwei Kilometer lang. Links und rechts wachsen Olivenbäum­e auf den Hügeln, hier und da stehen Lagerhalle­n, ein paar Felder sind umzäunt. Und überall hocken, liegen, laufen Flüchtling­e. Manche harren auf Matratzen im Schatten einer Mauer aus, andere sitzen unter Bäumen im Kreis, haben Planen aufgespann­t. Menschen kochen über Öfen aus Ziegelstei­nen, andere waschen ihre Kleidung am Straßenran­d.

Etwa 12.000 Menschen sollen zuletzt im Lager Moria gelebt haben, vielleicht sogar 14.000. Gebaut wurde es in der Hochphase der europäisch­en Asylkrise für gut 3000 Geflüchtet­e. Wie Hossains Familie irren nun viele in der Umgebung von Moria umher. Die Polizei hat die Wege zur Hauptstadt der Insel abgeriegel­t. Sie lassen die Menschen auf der Straße.

Maqbool Hossain sagt, er wisse nicht, wie es weitergehe. Letzte Nacht haben sie unter einem Olivenbaum geschlafen.

Die Polizisten auf der Straße schweigen und sagen ihm nur: „Ihr müsst warten.“Auf Nachfrage erklären manche der griechisch­en Beamten, dass sie auch nicht wüssten, was nun passiere. Mitarbeite­r der Eu-asylbehörd­en sind vor Ort nicht mehr zu sehen, von den Helfern der Flüchtling­sorganisat­ionen laufen nur wenige durch die Massen, verteilen Wasser und Decken.

Denn Wasser gebe es kaum, das Essen gehe zur Neige, der Strom für die Handyakkus auch, sagen viele der Flüchtling­e. „Wir haben alles verloren. Und niemand schert sich um uns“, sagt ein Afghane. „Es ist schlimmer als ein Gefängnis.“

Die meisten Menschen kommen aus dem Land am Hindukusch, aber einige auch aus Somalia, Eritrea, dem Kongo, Syrien. Bisher haben die Griechen nun einige Hundert minderjähr­ige Flüchtling­e von Lesbos ausgefloge­n. Kommen sie irgendwann nach Deutschlan­d? Viele wollen dorthin. Hoffnung haben nur noch wenige. Eher glauben sie, dass wieder nichts passiert.

Denn die Not in Moria ist nicht neu. Seit Jahren sind die Bedingunge­n katastroph­al, fehlt es an Medikament­en und Ärzten. Viele Geflüchtet­e sind älter, viele Frauen schwanger, dann wieder Kinder, die operiert werden müssen. Die Corona-pandemie, sagen die Menschen nun, sei einfach zu viel für einen Ort wie Moria gewesen.

Wo sind die an Corona erkrankten Flüchtling­e?

Die Lage sei eskaliert, als die Behördenmi­tarbeiter eine Quarantäne verhängt hätten, berichtet Abdi, der einen Kiosk direkt gegenüber vom Lager betreibt. Viele im Lager wurden in den vergangene­n Wochen auf das Coronaviru­s getestet. Kurz vor dem großen Brand kam die Nachricht, dass 35 Menschen infiziert sind. Und wo die meisten der Corona-erkrankten jetzt, nach dem Brand, sind, ist laut Medienberi­chten unklar.

Afghanen und Somalier hätten in Quarantäne gemusst, sagt Abdi. „Aber es war allen unklar, wer isoliert wird und wie lange.“Dann sei die Unruhe gewachsen. Am späten Dienstagab­end brannte das Lager.

Die Unruhe war gewachsen, allerdings nicht nur im Lager. Auch unter den Einwohnern der Insel. Viele sind wütend auf die EU, auf die griechisch­e Regierung. Sie fühlen sich alleingela­ssen mit den Tausenden Geflüchtet­en. Und jetzt, nach dem Brand, wissen auch die Menschen auf der Insel nicht, wie es weitergeht. Am Donnerstag protestier­ten einige von ihnen, blockierte­n Straßen nach Moria.

Der Ort ist zu einem Symbol geworden. Für das Scheitern der Euasylpoli­tik. Für eine humanitäre Katastroph­e in Europa. Für Hilflosigk­eit. Auf den Müllcontai­ner, mit dem Maqbool Hossain jetzt seinen letzten Besitz die Straße entlangsch­iebt, hat jemand „Moria“in blauer Farbe gemalt, darum ein Herz und einen Pfeil in Weiß. Als wäre das Lager ein Ort zum Verlieben.

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FOTO: LOUISA GOULIAMAKI / AFP Diese Kinder aus dem Flüchtling­slager Moria sind gerade aufgewacht, sie haben die Nacht auf einer Straße geschlafen.
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FOTO: MURAT TUEREMIS Reporter Christian Unger in Moria.

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