Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
Im Schatten von Scholz
Was machen eigentlich die Parteichefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans in diesem SPD-Wahlkampf? Unser Reporter begab sich auf Spurensuche
Das Leben kann schnell aus den Fugen geraten, im Fall von Thomas Stark: binnen sieben Minuten. So lange dauert die Konferenz, auf der ein Manager aus London – per Video – dem Betriebsratsvorsitzenden von Caterpillar mitteilt, dass die US-Firma Kiel aufgeben will. Gießerei, Motorenwerke, fast 700 Jobs. 155 Jahre Schiffsmotorenbau gehen zu Ende. „Das ist für uns eine Katastrophe“, sagen die Männer mit den roten IG-Metall-Shirts, die SPD-Chef Norbert Walter-Borjans in Kiel vor einem Motorenmuseum treffen. „Manchesterkapitalismus“, bemerkt Walter-Borjans. Er nehme ihn wieder häufiger wahr, „nicht nur bei amerikanischen Unternehmen“. Dann schildert er den Kampf gegen die Schließung von Haribo im Osten. Es ist eine Geschichte ohne Happy End. Trostfaktor: null.
Die SPD hat viele Vorsitzende erlebt. So einen wie Walter-Borjans hatte sie in den vergangenen 30 Jahre nie: so leise, so unaufdringlich. Im September wird er 69 Jahre alt, ein Mann im Abendrot seiner Karriere. Muss nichts mehr werden, nicht um eine Wiederwahl kämpfen, kandidiert nicht für den Bundestag. Die bisher zwei Jahre an der SPD-Spitze waren wie eine Bonusrunde. Ein sinnstiftendes Projekt, bei dem zum Vorschein kam, was er seinem Mentor Johannes Rau abgeschaut hat, nämlich eine Haltung: Versöhnen statt spalten.
Man kann sich unschwer ausmalen, was Naturelle wie Martin Schulz, Sigmar Gabriel, Franz Müntefering oder Gerhard Schröder in Kiel für einen Alarm gemacht hätten. Walter-Borjans überlässt das Serpil Midyatli, der SPD-Landeschefin. „Wir erlauben das nicht, dass so mit den Menschen umgegangen wird“, ruft sie aus. „Die Kieler SPD steht Gewehr bei Fuß.“
Walter-Borjans hat diesen Schlusstermin eines langen Tages in der immergleichen freundlichen Gemütslage bewältigt wie am Morgen die Besichtigung eines Zentrums für künstliche Intelligenz in der Medizin an der Uni Lübeck, ein Treffen mit einem Windparkbetreiber und die Begehung der ehemaligen Hindenburg-Kaserne in Neumünster, wo eine Leitstelle für Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste und Zoll entstehen soll. Auf jeder Station der Sommerreise bewegt er sich in einer Blase, umgeben von Experten und Betroffenen, unbemerkt von der Bevölkerung.
Richtig los geht der Wahlkampfzirkus Anfang August. Die erste SPD-Großveranstaltung ist in Bochum geplant. Aber wer weiß schon, ob die Pandemie den Kampagnenmachern nicht noch einen Strich durch die Rechnung macht. Momentan ist das Land schon aus einem Grund nicht für Wahlkämpfe bereit: wegen der Fluttragödie. Auf der Fahrt zwischen Neumünster und Kiel bemerkt Walter-Borjans, der übliche Wahlkampf – bunte Bilder, knallige Auftritte – könne eine „Gratwanderung zwischen Klamauk und Desinteresse“werden.
Bei Klamauk fällt ihm der feixende CDU-Spitzenkandidat Armin Laschet im Hochwassergebiet ein – und die Gernegroß-Kandidatin der Grünen mit ihrer aufgehübschten
Biografie. Annalena Baerbock und Laschet sind der Grund, warum über die SPD allmählich anders geredet, geschrieben, gesendet wird. Machen seine Konkurrenten so weiter, wird der Persönlichkeitsfaktor umso stärker ins Gewicht fallen. Damit „Olaf“besonders groß erscheint, macht sich seine Partei ein bisschen unsichtbar. Im Wahlkampf der SPD spielen die Parteivorsitzenden Walter-Borjans und Saskia Esken nur die zweite Geige.
Hoffen darauf, dass der Knoten platzt
Esken scheint so viel Selbstbescheidung schwerer zu fallen als WalterBorjans, aber beide bringen sie mit intaktem Selbstwertgefühl auf. Denn die personelle und programmatische Erneuerung, aber auch den stärkeren Zusammenhalt beanspruchen sie als ihre Leistung seit der Amtsübernahme 2019. Hier der Kanzlerkandidat – dort (neben, über, unter ihm?) die Parteichefs.
Die Konstellation gab es oft in der SPD: Peer Steinbrück und Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier und Franz Müntefering, Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine. Und fast immer: nicht ohne Spannungen. Nun also Scholz, ein Mann, der ungern zurückschaut und nicht viel über sich selbst erzählt. Ein langjähriger Genosse rät, man solle sich eine Deutschlandkarte nehmen und einen Strich ziehen, nicht längs, sondern diagonal. Diese imaginäre Linie würde durch Porta Westfalica und Nordhessen führen, weiter durch Südthüringen. Nördlich dieser Linie würden die Menschen Scholz so nehmen, wie er ist, südlich davon mit ihm kulturell fremdeln.
Das wäre zumindest eine Teilerklärung, warum sich die SPD in den Umfragen wenig bewegt und ihr bisher nur der relative Erfolg bleibt, dass sich ihr die Grünen von oben nähern. Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) stellt sich die Trendwende nicht wie einen Schneeball vor, der von Woche zu Woche wächst. Schon eher als Moment, in dem der Knoten platzt. Das Bild gefällt Walter-Borjans. Er glaubt gern daran, an den „Jetzt-platzt-der-Knoten-Moment“der SPD.