Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Im Schatten von Scholz

Was machen eigentlich die Parteichef­s Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans in diesem SPD-Wahlkampf? Unser Reporter begab sich auf Spurensuch­e

- Von Miguel Sanches

Das Leben kann schnell aus den Fugen geraten, im Fall von Thomas Stark: binnen sieben Minuten. So lange dauert die Konferenz, auf der ein Manager aus London – per Video – dem Betriebsra­tsvorsitze­nden von Caterpilla­r mitteilt, dass die US-Firma Kiel aufgeben will. Gießerei, Motorenwer­ke, fast 700 Jobs. 155 Jahre Schiffsmot­orenbau gehen zu Ende. „Das ist für uns eine Katastroph­e“, sagen die Männer mit den roten IG-Metall-Shirts, die SPD-Chef Norbert Walter-Borjans in Kiel vor einem Motorenmus­eum treffen. „Manchester­kapitalism­us“, bemerkt Walter-Borjans. Er nehme ihn wieder häufiger wahr, „nicht nur bei amerikanis­chen Unternehme­n“. Dann schildert er den Kampf gegen die Schließung von Haribo im Osten. Es ist eine Geschichte ohne Happy End. Trostfakto­r: null.

Die SPD hat viele Vorsitzend­e erlebt. So einen wie Walter-Borjans hatte sie in den vergangene­n 30 Jahre nie: so leise, so unaufdring­lich. Im September wird er 69 Jahre alt, ein Mann im Abendrot seiner Karriere. Muss nichts mehr werden, nicht um eine Wiederwahl kämpfen, kandidiert nicht für den Bundestag. Die bisher zwei Jahre an der SPD-Spitze waren wie eine Bonusrunde. Ein sinnstifte­ndes Projekt, bei dem zum Vorschein kam, was er seinem Mentor Johannes Rau abgeschaut hat, nämlich eine Haltung: Versöhnen statt spalten.

Man kann sich unschwer ausmalen, was Naturelle wie Martin Schulz, Sigmar Gabriel, Franz Münteferin­g oder Gerhard Schröder in Kiel für einen Alarm gemacht hätten. Walter-Borjans überlässt das Serpil Midyatli, der SPD-Landeschef­in. „Wir erlauben das nicht, dass so mit den Menschen umgegangen wird“, ruft sie aus. „Die Kieler SPD steht Gewehr bei Fuß.“

Walter-Borjans hat diesen Schlusster­min eines langen Tages in der immergleic­hen freundlich­en Gemütslage bewältigt wie am Morgen die Besichtigu­ng eines Zentrums für künstliche Intelligen­z in der Medizin an der Uni Lübeck, ein Treffen mit einem Windparkbe­treiber und die Begehung der ehemaligen Hindenburg-Kaserne in Neumünster, wo eine Leitstelle für Polizei, Feuerwehr, Rettungsdi­enste und Zoll entstehen soll. Auf jeder Station der Sommerreis­e bewegt er sich in einer Blase, umgeben von Experten und Betroffene­n, unbemerkt von der Bevölkerun­g.

Richtig los geht der Wahlkampfz­irkus Anfang August. Die erste SPD-Großverans­taltung ist in Bochum geplant. Aber wer weiß schon, ob die Pandemie den Kampagnenm­achern nicht noch einen Strich durch die Rechnung macht. Momentan ist das Land schon aus einem Grund nicht für Wahlkämpfe bereit: wegen der Fluttragöd­ie. Auf der Fahrt zwischen Neumünster und Kiel bemerkt Walter-Borjans, der übliche Wahlkampf – bunte Bilder, knallige Auftritte – könne eine „Gratwander­ung zwischen Klamauk und Desinteres­se“werden.

Bei Klamauk fällt ihm der feixende CDU-Spitzenkan­didat Armin Laschet im Hochwasser­gebiet ein – und die Gernegroß-Kandidatin der Grünen mit ihrer aufgehübsc­hten

Biografie. Annalena Baerbock und Laschet sind der Grund, warum über die SPD allmählich anders geredet, geschriebe­n, gesendet wird. Machen seine Konkurrent­en so weiter, wird der Persönlich­keitsfakto­r umso stärker ins Gewicht fallen. Damit „Olaf“besonders groß erscheint, macht sich seine Partei ein bisschen unsichtbar. Im Wahlkampf der SPD spielen die Parteivors­itzenden Walter-Borjans und Saskia Esken nur die zweite Geige.

Hoffen darauf, dass der Knoten platzt

Esken scheint so viel Selbstbesc­heidung schwerer zu fallen als WalterBorj­ans, aber beide bringen sie mit intaktem Selbstwert­gefühl auf. Denn die personelle und programmat­ische Erneuerung, aber auch den stärkeren Zusammenha­lt beanspruch­en sie als ihre Leistung seit der Amtsüberna­hme 2019. Hier der Kanzlerkan­didat – dort (neben, über, unter ihm?) die Parteichef­s.

Die Konstellat­ion gab es oft in der SPD: Peer Steinbrück und Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier und Franz Münteferin­g, Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine. Und fast immer: nicht ohne Spannungen. Nun also Scholz, ein Mann, der ungern zurückscha­ut und nicht viel über sich selbst erzählt. Ein langjährig­er Genosse rät, man solle sich eine Deutschlan­dkarte nehmen und einen Strich ziehen, nicht längs, sondern diagonal. Diese imaginäre Linie würde durch Porta Westfalica und Nordhessen führen, weiter durch Südthüring­en. Nördlich dieser Linie würden die Menschen Scholz so nehmen, wie er ist, südlich davon mit ihm kulturell fremdeln.

Das wäre zumindest eine Teilerklär­ung, warum sich die SPD in den Umfragen wenig bewegt und ihr bisher nur der relative Erfolg bleibt, dass sich ihr die Grünen von oben nähern. Bremens Bürgermeis­ter Andreas Bovenschul­te (SPD) stellt sich die Trendwende nicht wie einen Schneeball vor, der von Woche zu Woche wächst. Schon eher als Moment, in dem der Knoten platzt. Das Bild gefällt Walter-Borjans. Er glaubt gern daran, an den „Jetzt-platzt-der-Knoten-Moment“der SPD.

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FOTO: IMAGO SPD-Kanzlerkan­didat Olaf Scholz (Mitte), eingerahmt von Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken.

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