Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Nur noch geimpft ins Restaurant?

Vorstoß von Kanzleramt­sminister Helge Braun zu den Rechten von Ungeimpfte­n löst scharfe Kontrovers­e aus

- Von Jochen Gaugele und Alessandro Peduto

Die Corona-Neuinfekti­onen in Deutschlan­d nehmen weiter zu – am Sonntagmor­gen meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) 1387 Neuansteck­ungen und eine SiebenTage-Inzidenz von 13,8. Müssen sich die Bürger auf neue Beschränku­ngen einstellen?

Der Städte- und Gemeindebu­nd appelliert­e an Bund und Länder, einen weiteren Lockdown zu verhindern. Dies wäre „verheerend für die Menschen, aber auch für die Wirtschaft“, sagte Hauptgesch­äftsführer Gerd Landsberg unserer Redaktion. „Bund und Länder müssen sich zeitnah darauf verständig­en, welche Maßstäbe gelten wann und wo für weitere Einschränk­ungen im Herbst.“

Ein weitreiche­nder Vorstoß kam am Wochenende von Kanzleramt­sminister Helge Braun. Der CDUPolitik­er rief die Bürger in der „Bild am Sonntag“zum Impfen auf – und kündigte an: „Geimpfte werden definitiv mehr Freiheiten haben als Ungeimpfte.“Sollten die Neuinfekti­onen weiter so zunehmen, müssten Ungeimpfte ihre Kontakte wieder reduzieren. „Das kann auch bedeuten, dass gewisse Angebote wie Restaurant-, Kino- und Stadionbes­uche selbst für getestete Ungeimpfte nicht mehr möglich wären, weil das Restrisiko zu hoch ist.“

Geimpfte dürfen ins Kino, Ungeimpfte nicht? Braun verknüpfte seine Initiative mit einer dramatisch­en Warnung. Sollte sich die Impfquote nicht enorm verbessern oder sich das Verhalten der Bürger ändern, könne es zur Zeit der Bundestags­wahl im September jeden Tag 100.000 Neuinfekti­onen und eine Inzidenz von 850 geben.

Rückendeck­ung bekam Braun vom Vorsitzend­en des Weltärzteb­unds, Frank Ulrich Montgomery. Es sei „richtig, wenn Geimpfte mehr Möglichkei­ten, mehr Freiheitsr­äume bekommen als Nichtgeimp­fte“, sagte Montgomery unserer Redaktion. „Es gibt keinen Grund, Geimpften und Immunen ihre Grundrecht­e weiter vorzuentha­lten, nur weil ein paar ewige Skeptiker sich der Impfung entziehen.“

Grünen-Chef Robert Habeck argumentie­rte ähnlich. „Man muss sich nicht impfen lassen, aber kann nicht damit rechnen, dass alle anderen auf ihre Freiheit verzichten, weil man sich nicht hat impfen lassen“, sagte Habeck unserer Redaktion. „Die Konsequenz ist, dass Geimpfte beziehungs­weise Genesene zukünftig unter Umständen mehr Möglichkei­ten und Zugänge haben können als Menschen, die sich gegen eine Impfung entschiede­n haben.“Ausnahmen müsse es für diejenigen geben, die sich aus gesundheit­lichen Gründen nicht impfen lassen könnten.

Dagegen wies Unionskanz­lerkandida­t

Armin Laschet die Initiative seines Parteifreu­ndes Braun zurück. „Ich halte nichts von Impfpflich­t und halte auch nichts davon, auf Menschen indirekt Druck zu machen, dass sie sich impfen lassen sollen“, sagte Laschet im ZDF. Das Prinzip, dass man entweder geimpft, getestet oder genesen sein müsse, um bestimmte Dinge zu tun, sei richtig. „In einem freiheitli­chen Staat gibt es Freiheitsr­echte nicht nur für bestimmte Gruppen.“

Mit scharfem Protest reagierten FDP und Linke auf Brauns Initiative. Einschränk­ungen für Nichtgeimp­fte wären „die Einführung der Impfpflich­t durch die Hintertür“, sagte der Vizepräsid­ent des Bundestage­s, Wolfgang Kubicki (FDP), unserer Redaktion. „Überdies ist eine solche Kategorisi­erung von Grundrecht­en in eine erste und eine zweite Klasse klar verfassung­swidrig.“Linke-Fraktionsc­hef Dietmar Bartsch forderte ein Ende der „wöchentlic­h neuen Ankündigun­gen aus dem Kanzleramt“.

In Deutschlan­d waren bis Freitag knapp 41 Millionen Menschen zweifach gegen Covid-19 geimpft, wie aus Zahlen des RKI und des Bundesgesu­ndheitsmin­isteriums hervorgeht. Das war ein Anteil von 49,1 Prozent der Gesamtbevö­lkerung. 60,8 Prozent haben bislang mindestens eine Dosis erhalten. Aktuelle Zahlen vom Wochenende lagen noch nicht vor. Nach einer Ende Juni veröffentl­ichten RKI-Erhebung

lag die Impfbereit­schaft der bis dahin Ungeimpfte­n bei 67 Prozent. Um Herdenimmu­nität in Deutschlan­d zu erreichen, halten Fachleute eine Impfquote von mindestens 85 Prozent für erforderli­ch. Die Ausbreitun­g der besonders ansteckend­en Delta-Variante weckte zuletzt Zweifel bei Experten, ob eine Herdenimmu­nität überhaupt zu erreichen ist.

Um einen neuen Lockdown abzuwenden, will der Städte- und Gemeindebu­nd die Inzidenz als Maßstab für die pandemisch­e Lage relativier­en, heißt es. Es müsse ein neuer Orientieru­ngswert gefunden werden, der die Inzidenz, aber auch die Belastung der Krankenhäu­ser in den Blick nehme.

„Das sollte bundeseinh­eitlich zwischen den Ländern vereinbart werden“, forderte beispielsw­eise Hauptgesch­äftsführer Landsberg. „Wir müssen vermeiden, dass in einem Land die Restaurant­s wieder schließen, weil die Inzidenz über 100 steigt und in einem anderen Land dies schon bei 50 oder erst bei 150 erfolgt.“

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FOTO: B. HAUMANN / FFS Kann man bedenkenlo­s in einem Restaurant essen, wenn nicht alle Gäste geimpft sind? In Deutschlan­d herrscht Verunsiche­rung.
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FOTO: MICHAEL KAPPELER / DPA Erwartet Ende September 100.000 Neuinfekti­onen am T ag: Kanzleramt­schef Helge Braun.

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