Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Das Leben nach der Flut

Im Ahrtal ist der gröbste Schlamm weggeschip­pt. Die Menschen begreifen, was sie verloren haben. Hoffnung macht ihnen die Hilfsberei­tschaft

- Von Christian Unger

Ursula Knopp steht im Keller. An den Wänden klebt nur noch der Putz, auf den Fliesen am Boden schliert noch der Schlamm, in der Ecke lehnen Schaufeln und Besen. Die Tür zum Garten ist aus schwerem Stahl, ein Riegel sichert das Schloss. Die Tür konnte die Flutwelle nicht mehr zurückhalt­en. Die Sandsäcke, 25 Kilo schwer und einen Meter hoch, wurden weggespült.

Vor gut einer Woche, in nur wenigen Augenblick­en am späten Mittwochab­end, wusste Ursula Knopp nicht, ob sie noch lebend aus ihrem Keller rauskommt.

Sie waren noch mal runtergega­ngen, sie und ihr Mann Jürgen, die Treppe vom Flur des Hauses in den Keller. Wollten noch ein paar Dinge hochholen, weil die beiden merkten, wie der Pegel noch weiter stieg. „Die Tür ist plötzlich einfach aufgespült worden“, sagt Ursula Knopp heute. Auf einmal konnte sie die Tür zurück Richtung Flur, hoch zur Wohnung, nicht mehr öffnen. Knopps Mann Jürgen zog von der anderen Seite, sie drückte. Nichts passierte. Und das Wasser stieg.

Mit Wucht floss die Flut in die Orte am Ufer der Ahr, hier zwischen den steilen Hängen im Rheinland. Keller, Autos, Garagen wurden zu Fallen. Allein hier im Kreis Ahrweiler sind 132 Menschen ertrunken. Und noch immer melden die Behörden 149 Vermisste.

Einige in den Orten erzählen, dass sie Todesangst hatten. Dass sie nur knapp überlebt haben. Jetzt, fast zwei Wochen später, wo der erste Schub an Adrenalin der Müdigkeit weicht, wo der erste Schlamm weggeschle­ppt ist, kriecht die Katastroph­e mehr und mehr in die Gedanken der Menschen.

In dem Dorf Dernau, etwas flussaufwä­rts, stand das Wasser noch höher. Die Bäume und Gleise am Ufer sind aus der Erde gespült, Häuser zerstört. Auch hier hat es Tote gegeben. Gerade erst vor einem Tag sei noch eine Person im Schlamm geborgen worden, erzählt ein Helfer.

In einem Haus steht die Tür offen, jemand hat im Flur einen kleinen Tisch zu einem Altar aufgebaut. Kerzen brennen dort, in der Ecke steht ein Strauß Blumen. Und auf dem Tisch ein Foto. Es zeigt eine Frau, vielleicht Ende 50, Brille, Kurzhaarsc­hnitt. Darüber steht: „R.I.P. Mama“.

Jemand hat eine Karte daneben postiert. „Gott, du Geheimnis dieser Welt, aus tiefster Not klagen wir zu dir, wer von uns könnte jemals genau verstehen, was in den letzten Tagen geschehen ist?“, steht dort geschriebe­n. Eine Familie sucht nach einem Ort für die Trauer. Hier, im kleinen Ort Dernau, ist es in diesem Moment der Hauseingan­g einer Wohnung, die gerade erst vom Schutt befreit wurde.

„Auf einmal lebst du in einem Ort, für den die Menschen in ganz Deutschlan­d Spenden sammeln“, sagt eine Anwohnerin. Es ist ein

Satz, der das Fassungslo­se doch noch in Worte fasst. Jürgen Knopp sagt: „Ich trage die Hose meiner Frau. Ich habe so viel abgenommen in diesen Tagen.“Neben Häusern und Brücken werden die Menschen hier im Ahrtal auch sich selbst in den nächsten Wochen und Monaten aufrichten müssen.

Das Reden über das Erlebte hilft den Betroffene­n

Ursula Knopp, so bekommt man den Eindruck, ist schon wieder ziemlich weit oben. Sie meditiere viel, arbeite als Neurokines­iologin, weiß, wie Körper und Kopf bei Stress ticken. „Mein Gehirn ist jetzt auf Aktivität eingestell­t“, sagt sie. Arbeit kann auch Ablenkung sein.

In der Nacht der Flut, erzählt sie, als sie und ihr Mann durch die Wassermass­en im Keller festgestec­kt hatten, zerbrach das Wasser ein Fenster. Die Strömung kehrte sich um, die Tür zum Flur schoss auf und Ursula Knopp mit dem Wasser in

Richtung Treppe. Auch ihr Mann konnte sich retten.

Was bleibt, ist das durchspült­e Haus. Alle Türen im Haus müssen raus, die Zargen, die Regale und Schränke, der Fußboden auch, weil der Estrich feucht ist. Aber Ursula Knopp sagt: „Ich sehe auch das Positive.“Die vielen Helfer, von denen gerade wieder zwei in ihrem Garten stehen und sich gerade für den Tag verabschie­den. „Und noch nie haben wir Nachbarn so eng und viel miteinande­r geredet.“Es ist das, was bei der Katastroph­e im Kopf hilft: das Reden, vor allem über das, was Hoffnung gibt.

Pfarrer Jörg Meyrer trägt grüne Gummistief­el, eine kurze blaue Hose und ein helles Priesterhe­md. Er geht durch die staubigen Straßen von Walporzhei­m, das kleine Örtchen im Kreis Ahrweiler, in dem auch die Knopps wohnen. Viele kennen Meyrer hier, er lebt seit fast 20 Jahren in Ahrweiler, das Wasser floss auch in die Kirchen der Gemeinde. Aber jetzt ist er unterwegs, will den Menschen zuhören. Will etwas Sicherheit geben, Mut machen, und, wenn es passt, vielleicht auch mal einen kurzen Scherz. Ein Schulterkl­opfen, eine Umarmung.

Meyrer hat keine Schaufel und auch keinen Bagger. Aber was viele hier im Ort gerade brauchen, ist jemand, der etwas Zeit für sie mitbringt. So wie die Familie mit dem großen Eckhaus. Pfarrer Meyrer spricht den Mann an, sie kommen schnell ins Reden. „Wir sehen langsam Land“, sagt der Mann. Aber die „alten Leutchen“täten ihm leid. „Wenn das jetzt zwei Jahre dauert, dann schaffe ich das. Aber was ist, wenn ich 80 bin?“Viele in der Region sind schon im Rentenalte­r.

Meyrer kommt mit ins Haus, auch hier hat die Familie schon geschrubbt und geschleppt. Das Erdgeschos­s ist leer geräumt, im oberen Stock steht alles voll. Das Paar hat zwei Kinder, einen Sohn, 11, und eine Tochter, 10. Die Mutter kommt dazu. Gerade seien die Kinder mal für einen Tag bei Freunden in einem anderen Ort. Weg aus dem Katastroph­engebiet.

Der Sohn, so erzählen Vater und Mutter im Flur ihrer Wohnung, habe in den ersten Tagen nach dem Hochwasser viel geholfen. „Der stand mit der Schaufel im Garten und hat losgelegt“, sagt die Mutter. Die Tochter habe sich zurückgezo­gen, die Momente der Flut verarbeite sie ganz anders.

Dann zeigt die Mutter ein Bild, das die Tochter Anika gemalt hat. Es zeigt ein Auge, mit lila Filzstift gezeichnet. Das Auge weint. Und in der Pupille spiegeln sich Menschen mit Tränen im Gesicht, ein Haus, ein Christus-Kreuz und eine Brücke über einen Fluss. Und ein Schild hat das Mädchen noch gemalt. „Warning“, steht dort. „Ist das nicht beeindruck­end“, sagt die Mutter. „Uns hat dieses Bild wahnsinnig berührt.“Es ist der Moment, in dem ihre Stimme wegbricht. Auch ihr Mann hat Tränen in den Augen.

Ein paar Tage später trägt Pastor Meyrer nicht mehr Gummistief­el, sondern ein weißes Gewand und grüne Stola. Er steht im Innenhof des Klosters von Ahrweiler, ein mächtiger Bau auf einem Hügel am Ufer der Ahr. Es ist Sonntag, die Sonne scheint, und Meyrer lädt zum Gottesdien­st ein. Knapp zwanzig Menschen aus dem Ort sind gekommen, viele Ältere, aber auch Eltern und Omas mit ihren Kindern. Sie sitzen auf Stühlen auf dem Rasen unter einer großen Eiche.

Alle stellen sich kurz vor, sie singen Lieder, sprechen das Vaterunser. Pastor Meyrer liest eine Geschichte aus dem Johannes-Evangelium vor. Manchmal hört man das laute Brummen der Hubschraub­er über dem Klosterhof. Ein Gottesdien­st mitten im Katastroph­engebiet. Ein Moment der Ruhe zwischen Baggern und Lastwagen. Ein Moment für die Krise im Kopf. „Ich glaube, manche erklären uns für verrückt, dass wir das tun“, sagt Pastor Meyrer in die Runde. „Aber ganz, ganz, ganz viele sagen auch: Betet für uns mit.“

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FOTO: CHRISTIAN UNGER (3) Ursula Knopp und ihr Ehemann Jürgen an ihrem Haus in Walporzhei­m: Als die Flut kam, steckte das Ehepaar im Keller fest.
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Vieles ist zerstört im Ahrtal, allein mehr als 60 kaputte Brücken zählen die Behörden. .
 ??  ?? Pfarrer Jörg Meyrer hört sich die Nöte der Menschen an.
Pfarrer Jörg Meyrer hört sich die Nöte der Menschen an.
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FOTO: DPA In den Kursaal von Bad Neuenahr wurde ein Baum gespült.
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F.:V. LANNERT Schlamm und Wasser werden aus den Häusern gepumpt.
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FOTO: AFP Nicht mehr zu retten ist dieses Haus im Ort Mayschoss.

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