Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Wenn Paare keinen Sex haben

Viele Menschen sind erschöpft und überforder­t. Immer mehr sagen: Ich habe derzeit keine Lust – und das ist okay so

- Von Oliver Stöwing

Liebe liegt in der Luft! Keine Frage, es wird wieder geflirtet in den Parks und Straßencaf­és. Doch wird das Leben jetzt, nach dem langen Lockdown, zu einem einzigen Rausch der Sinnlichke­it? Das Gegenteil scheint der Fall. Die übersexual­isierten Zehnerjahr­e sind vorbei. Themen wie Vielfalt, Geschlecht­errollen und ein neues Miteinande­r bestimmen die öffentlich­e Diskussion. Statt Sex-Ratgebern finden sich in der Bestseller­liste Titel wie „Radikale Zärtlichke­it“, „Älterwerde­n ist voll sexy“, „Unsere Welt neu denken“oder „Woman on Fire“. Dagegen segelte der letzte Teil der „50 Shades of Gray“-Romanreihe schneller von der Chartspitz­e als Sadomaso-Milliardär Christian Sätze wie „Lass uns ins Bett gehen, ich schulde dir einen Orgasmus“sagen kann.

Fragen wie die, ob es Freiheit bedeuten kann, sich einem Mann zu unterwerfe­n, sind von gestern. „Es ist nicht das, was Frauen jetzt wollen“, schreibt „Guardian“-Kolumnisti­n

Helen Rumbelow. Mit der #MeeToo-Bewegung habe sich die Sichtweise auf solche Fiktionen verändert.

Auch Studien weltweit deuten an: Wir werden zurückhalt­ender mit der Sexualität. Nach einer Umfrage des US-Dating-Portals „Plenty of Fish“glauben 51 Prozent der befragten Singles, dass One-NightStand­s der Vergangenh­eit angehören. Social Distancing, so erklären es sich die Betreiber, habe sich in unseren Köpfen festgesetz­t. Die Dating-App Tinder ermittelte, dass Anbahnungs­gespräche seit der Pandemie

um 32 Prozent länger geworden sind. Offenbar legen Nutzer es nun auf längerfris­tige Beziehunge­n denn auf schnellen Sex an. Viele haben die Erfahrung gemacht: Das sexy Tinder-Date vom Wochenende stellt einem während einer Quarantäne keine Tüte mit Einkäufen vor die Haustür.

Die Berlinerin Sonja (39) ist seit zwölf Jahren mit Falk (37) zusammen, das Paar hat zwei kleine Kinder. „Klar gab es Stress und Streit, aber wir haben während der Pandemie gemerkt, dass wir Dinge gemeinsam wuppen können. Sind wir dann noch übereinand­er hergefalle­n, wenn die Kinder im Bett waren? Nein.“Und für Sonja ist das auch völlig okay. „Wir brechen ein Tabu, wir haben keinen Sex, im Moment jedenfalls nicht“, sagt sie: „Wir wollen uns nicht mehr von einer Optimierun­gsindustri­e verrückt machen lassen, uns in Fetischkos­tümen lächerlich vorkommen und mit Handschell­en abmühen.“

Ratgeberbü­cher, „Sexperten“in Magazinen, Filme oder Werbungen, die einem ständig einreden, dass man zu wenig Sex hätte – Sonja blendet all dies aus. „Eine Paartherap­ie, damit es wieder rappelt in der Kiste? Klingt nach Arbeit“, sagt sie und lacht. „Ich gehe gern mit Falk ins Bett – jeder mit seinem Buch.“

„Abstinenz ist weitverbre­itet“, sagt die Sexualther­apeutin Anica Plaßmann (Buch: „Sexfrei: Weil es okay ist, keine Lust zu haben“, Knaur). Sie ist normal. Sie ist immer wieder unser aller Realität. Und sie wird völlig zu Unrecht stigmatisi­ert.“

 ?? FOTO: GETTY IMAGES ?? Liebe ohne Sex muss kein Widerspruc­h sein.
FOTO: GETTY IMAGES Liebe ohne Sex muss kein Widerspruc­h sein.

Newspapers in German

Newspapers from Germany