Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
Wenn Paare keinen Sex haben
Viele Menschen sind erschöpft und überfordert. Immer mehr sagen: Ich habe derzeit keine Lust – und das ist okay so
Liebe liegt in der Luft! Keine Frage, es wird wieder geflirtet in den Parks und Straßencafés. Doch wird das Leben jetzt, nach dem langen Lockdown, zu einem einzigen Rausch der Sinnlichkeit? Das Gegenteil scheint der Fall. Die übersexualisierten Zehnerjahre sind vorbei. Themen wie Vielfalt, Geschlechterrollen und ein neues Miteinander bestimmen die öffentliche Diskussion. Statt Sex-Ratgebern finden sich in der Bestsellerliste Titel wie „Radikale Zärtlichkeit“, „Älterwerden ist voll sexy“, „Unsere Welt neu denken“oder „Woman on Fire“. Dagegen segelte der letzte Teil der „50 Shades of Gray“-Romanreihe schneller von der Chartspitze als Sadomaso-Milliardär Christian Sätze wie „Lass uns ins Bett gehen, ich schulde dir einen Orgasmus“sagen kann.
Fragen wie die, ob es Freiheit bedeuten kann, sich einem Mann zu unterwerfen, sind von gestern. „Es ist nicht das, was Frauen jetzt wollen“, schreibt „Guardian“-Kolumnistin
Helen Rumbelow. Mit der #MeeToo-Bewegung habe sich die Sichtweise auf solche Fiktionen verändert.
Auch Studien weltweit deuten an: Wir werden zurückhaltender mit der Sexualität. Nach einer Umfrage des US-Dating-Portals „Plenty of Fish“glauben 51 Prozent der befragten Singles, dass One-NightStands der Vergangenheit angehören. Social Distancing, so erklären es sich die Betreiber, habe sich in unseren Köpfen festgesetzt. Die Dating-App Tinder ermittelte, dass Anbahnungsgespräche seit der Pandemie
um 32 Prozent länger geworden sind. Offenbar legen Nutzer es nun auf längerfristige Beziehungen denn auf schnellen Sex an. Viele haben die Erfahrung gemacht: Das sexy Tinder-Date vom Wochenende stellt einem während einer Quarantäne keine Tüte mit Einkäufen vor die Haustür.
Die Berlinerin Sonja (39) ist seit zwölf Jahren mit Falk (37) zusammen, das Paar hat zwei kleine Kinder. „Klar gab es Stress und Streit, aber wir haben während der Pandemie gemerkt, dass wir Dinge gemeinsam wuppen können. Sind wir dann noch übereinander hergefallen, wenn die Kinder im Bett waren? Nein.“Und für Sonja ist das auch völlig okay. „Wir brechen ein Tabu, wir haben keinen Sex, im Moment jedenfalls nicht“, sagt sie: „Wir wollen uns nicht mehr von einer Optimierungsindustrie verrückt machen lassen, uns in Fetischkostümen lächerlich vorkommen und mit Handschellen abmühen.“
Ratgeberbücher, „Sexperten“in Magazinen, Filme oder Werbungen, die einem ständig einreden, dass man zu wenig Sex hätte – Sonja blendet all dies aus. „Eine Paartherapie, damit es wieder rappelt in der Kiste? Klingt nach Arbeit“, sagt sie und lacht. „Ich gehe gern mit Falk ins Bett – jeder mit seinem Buch.“
„Abstinenz ist weitverbreitet“, sagt die Sexualtherapeutin Anica Plaßmann (Buch: „Sexfrei: Weil es okay ist, keine Lust zu haben“, Knaur). Sie ist normal. Sie ist immer wieder unser aller Realität. Und sie wird völlig zu Unrecht stigmatisiert.“