Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
Einer von uns
Ich war gerade erwacht, da stand meine Mutter bereits in der Tür. „Komm schnell rüber ins Wohnzimmer, der Olaf gewinnt gerade.“Ich ließ mich nicht zweimal bitten. Noch leicht schlaftrunken sah ich dann auf unserem RFT-Fernseher, wie Olaf Ludwig im Begriff war, das Straßenrennen in Seoul 1988 zu gewinnen. Der damals 28-Jährige lag souverän in Führung und hatte seine beiden westdeutschen Kontrahenten Bernd Gröne und Christian Henn kurz vor dem Ziel abgehängt. Es war unglaublich, Olaf aus Gera gewann…
Wenn man mich nach meiner schönsten Olympia-Erinnerung fragt, werde ich immer von jenem
Moment berichten, den ich als Neunjähriger kurz vor der Schule mit meinen Eltern erlebt habe. Kein anderer Sieg hat sich so in mein Gedächtnis eingebrannt wie der des gebürtigen Geraers.
Olaf Ludwig war für uns Kinder ein Idol. Zweimal hatte er die Friedensfahrt (1982, 1986) gewonnen. Und bei den Rennen, die wir mit unseren Klappfahrrädern in den Straßen von Gera-Lusan veranstalteten, war er allgegenwärtig. Er und dieser Schaukelstuhlfahrer aus Usbekistan namens Abduschaparow – doch der spielte an jenem 27. September so gar keine Rolle. An diesem Tag gab es nur Olaf, und als er die Goldmedaille holte, hatten auch wir Kinder alle eine gewonnen, denn er kam ja aus unserer Stadt. Dadurch hatten wir alle eine direkte Verbindung zu ihm. Kurzum: Er war einer von uns. An diesem Tag hätte man Gera wohl auch problemlos in „Olafstadt“oder „Ludwighausen“umbenennen können. Alle waren Olaf – Klein und Groß zugleich.
Beim Punktefahren auf der Bahn in Seoul ein paar Tage zuvor war er indes kolossal gescheitert. Danach wollten ihn die DDR-Offiziellen gar nicht mehr beim Straßenrennen antreten lassen. Aber wie das manchmal so läuft: gerade noch Versager, plötzlich strahlender Sieger, dessen Triumph man auch für politische Zwecke super instrumentalisieren konnte. Schließlich hatte er ja zwei Athleten aus der BRD hinter sich gelassen. Besser ging’s nicht in Sachen Klassenkampf – doch was weiß man schon als Neunjähriger von solch ideologischen Sachverhalten.
Zwei Jahre nach seinem Erfolg in Südkorea gab es die DDR nicht mehr. Im Februar 1990 wurde Ludwig Profi. Er fuhr nun die Tour de France und konnte bei seinem Debüt gleich auf Anhieb das Grüne Trikot holen. Er war erst der zweite deutsche Fahrer nach Rudi Altig 1962, dem das gelang. Als er 1992 die Schlussetappe der Tour de France auf dem Champs-Élysées in
Paris gewann, saß ich derweil gebannt am Radio in unserem Garten, um die Zielankunft zu verfolgen. „Ludwig, Ludwig, immer noch
Ludwig…“Ein weiterer Olaf-Moment. Doch an den legendären Morgen des 27. Septembers 1988 kam er nicht ganz heran.