Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
Bronze wertvoll wie Gold
Simone Biles krönt emotionales Comeback mit Platz drei am Schwebebalken
Ihr wichtigster Sieg ist keiner im herkömmlichen Sinne. Jedenfalls nicht, wenn man im Sport am Ende nur den Ersten als Gewinner betrachtet. Simone Biles‘ größte Errungenschaft in Tokio ist, noch einmal zu einem Gerätefinale zurückgekehrt zu sein. Die Spiele sollten ganz im Zeichen der erfolgreichsten Turnerin der Geschichte stehen. Das ist nun auch der Fall – wenn auch ganz anders als vorgesehen.
Simone Biles misst gerade mal 142 Zentimeter – doch selbst damit ist die 24-Jährige weit größer als ihre vier Olympiasiege 2016 in Rio, ihre 19 Weltmeister-Titel in den vergangenen acht Jahren. Als sie sich nun mit Bronze am Schwebebalken von Tokio verabschiedet – zum Anfang hatte sie ja noch Silber mit der Mannschaft gewonnen, obwohl sie den Wettkampf nicht zu Ende turnen konnte –, sagt Biles, dieser dritte Platz fühle sich „viel süßer“als alle vorherigen Erfolge an. „Ich weiß dieses Bronze viel mehr zu schätzen. Und ich widme es dem Team USA, das mich während der letzten Woche unterstützt hat – das bedeutet die Welt für mich.“
Biles ist als Superstar nach Japan gereist, viele erwarteten von der besten Turnerin, die es je gab, eine wahre Goldmedaillenflut. In den USA wird sie als GOAT bezeichnet, was in der ursprünglichen Übersetzung Ziege heißt. Gemeint ist jedoch eine Abkürzung: Greatest Of All Time, Größte aller Zeiten. Doch nach ihrem Ausstieg aus dem Mannschafts-Mehrkampf, für den sie mentale Probleme und Angstzustände anführte, spürt die zierliche Frau aus Columbus/Ohio erbarmungslos, dass auch als Superhelden
verehrte Menschen keine übernatürlichen Kräfte besitzen.
„Das war eine sehr lange Woche, das waren sehr lange fünf Jahre“, sagt Biles, nachdem sie drei der vier vorherigen Einzelfinale wegen ihres gesundheitlichen Zustands und „Kämpfen gegen Dämonen“ausgelassen hatte. In der vergangenen Woche wurde sie täglich bei Medizinern
vorstellig, zweimal versuchte ein Psychologe, die angeknackste Seele zu reparieren. Mit vorläufigem Erfolg. „Ich habe heute keine Medaille erwartet. Ich wollte nur dabei sein und das für mich tun – und genau das habe ich getan“, sagt Biles. Zwei Stunden vor dem Finale am Schwebebalken betritt sie das Ariake Gymnastic Centre, wärmt sich auf, Trainerin Cecile Landi ist immer an ihrer Seite. Hin und wieder funkeln ihre Augen genauso wie der Anzug.
Später im Wettkampf beobachtet sie ihre Gegnerinnen, applaudiert und gratuliert ihnen. Bei ihrer eigenen Übung verzichtet sie auf Rotationen um die Längsachse; „ich mache sie, seit ich zwölf bin“, sagt Biles, „aber im Moment geht das nicht. Meine mentale und physische Gesundheit stehen über jeder Medaille, die ich je gewinnen könnte.“Als ihr der Abgang reibungslos gelingt, fasst sich Biles ans Herz und wirft Kusshände in die Fernsehkameras, die nahezu ausnahmslos auf sie gerichtet sind. 14,000 Punkte sind weit unter ihrem Potenzial, bedeuten am Ende aber doch noch Rang drei hinter den Chinesinnen Guan Chechen (16/14,633 Punkte) und Tang Xijing (18/14,233).
Bevor es zur Siegerehrung geht, hält Thomas Bach einen kurzen Plausch mit dem US-Star. Auch der deutsche IOC-Präsident weiß: Biles‘ Tage in Tokio werden den angestoßenen Diskurs um Schwächezeigen und Stärkedemonstrieren im Sport weiter befeuern.
Wenn Simone Biles mit ihrer Offenheit nun andere Sportlerinnen und Sportler ermutigt, ebenfalls über Schwächen zu sprechen, könnte das am Ende genauso viel wert sein wie eine Medaille.