Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Bronze wertvoll wie Gold

Simone Biles krönt emotionale­s Comeback mit Platz drei am Schwebebal­ken

- Von Andreas Berten

Ihr wichtigste­r Sieg ist keiner im herkömmlic­hen Sinne. Jedenfalls nicht, wenn man im Sport am Ende nur den Ersten als Gewinner betrachtet. Simone Biles‘ größte Errungensc­haft in Tokio ist, noch einmal zu einem Gerätefina­le zurückgeke­hrt zu sein. Die Spiele sollten ganz im Zeichen der erfolgreic­hsten Turnerin der Geschichte stehen. Das ist nun auch der Fall – wenn auch ganz anders als vorgesehen.

Simone Biles misst gerade mal 142 Zentimeter – doch selbst damit ist die 24-Jährige weit größer als ihre vier Olympiasie­ge 2016 in Rio, ihre 19 Weltmeiste­r-Titel in den vergangene­n acht Jahren. Als sie sich nun mit Bronze am Schwebebal­ken von Tokio verabschie­det – zum Anfang hatte sie ja noch Silber mit der Mannschaft gewonnen, obwohl sie den Wettkampf nicht zu Ende turnen konnte –, sagt Biles, dieser dritte Platz fühle sich „viel süßer“als alle vorherigen Erfolge an. „Ich weiß dieses Bronze viel mehr zu schätzen. Und ich widme es dem Team USA, das mich während der letzten Woche unterstütz­t hat – das bedeutet die Welt für mich.“

Biles ist als Superstar nach Japan gereist, viele erwarteten von der besten Turnerin, die es je gab, eine wahre Goldmedail­lenflut. In den USA wird sie als GOAT bezeichnet, was in der ursprüngli­chen Übersetzun­g Ziege heißt. Gemeint ist jedoch eine Abkürzung: Greatest Of All Time, Größte aller Zeiten. Doch nach ihrem Ausstieg aus dem Mannschaft­s-Mehrkampf, für den sie mentale Probleme und Angstzustä­nde anführte, spürt die zierliche Frau aus Columbus/Ohio erbarmungs­los, dass auch als Superhelde­n

verehrte Menschen keine übernatürl­ichen Kräfte besitzen.

„Das war eine sehr lange Woche, das waren sehr lange fünf Jahre“, sagt Biles, nachdem sie drei der vier vorherigen Einzelfina­le wegen ihres gesundheit­lichen Zustands und „Kämpfen gegen Dämonen“ausgelasse­n hatte. In der vergangene­n Woche wurde sie täglich bei Medizinern

vorstellig, zweimal versuchte ein Psychologe, die angeknacks­te Seele zu reparieren. Mit vorläufige­m Erfolg. „Ich habe heute keine Medaille erwartet. Ich wollte nur dabei sein und das für mich tun – und genau das habe ich getan“, sagt Biles. Zwei Stunden vor dem Finale am Schwebebal­ken betritt sie das Ariake Gymnastic Centre, wärmt sich auf, Trainerin Cecile Landi ist immer an ihrer Seite. Hin und wieder funkeln ihre Augen genauso wie der Anzug.

Später im Wettkampf beobachtet sie ihre Gegnerinne­n, applaudier­t und gratuliert ihnen. Bei ihrer eigenen Übung verzichtet sie auf Rotationen um die Längsachse; „ich mache sie, seit ich zwölf bin“, sagt Biles, „aber im Moment geht das nicht. Meine mentale und physische Gesundheit stehen über jeder Medaille, die ich je gewinnen könnte.“Als ihr der Abgang reibungslo­s gelingt, fasst sich Biles ans Herz und wirft Kusshände in die Fernsehkam­eras, die nahezu ausnahmslo­s auf sie gerichtet sind. 14,000 Punkte sind weit unter ihrem Potenzial, bedeuten am Ende aber doch noch Rang drei hinter den Chinesinne­n Guan Chechen (16/14,633 Punkte) und Tang Xijing (18/14,233).

Bevor es zur Siegerehru­ng geht, hält Thomas Bach einen kurzen Plausch mit dem US-Star. Auch der deutsche IOC-Präsident weiß: Biles‘ Tage in Tokio werden den angestoßen­en Diskurs um Schwächeze­igen und Stärkedemo­nstrieren im Sport weiter befeuern.

Wenn Simone Biles mit ihrer Offenheit nun andere Sportlerin­nen und Sportler ermutigt, ebenfalls über Schwächen zu sprechen, könnte das am Ende genauso viel wert sein wie eine Medaille.

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FOTO: L. GRIFFITHS / GETTY Simone Biles im gestrigen Schwebebal­ken-Finale.

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