Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Ein Tänzchen vor Millionen

- Andreas Rabel über Heike Drechslers Gold in Sydney

Ein Frühaufste­her bin ich wahrlich nicht. Aber den Wecker, den habe ich mir damals gern gestellt. Um Heike Drechsler im olympische­n Weitsprung-Finale am 29. September 2020 in Sydney am Fernseher zu sehen. Würde sie mit 35 Jahren noch einmal einen großen Sprung landen?

Olympiasie­gerin 1992 war sie, zweimal Welt-, fünfmal Europameis­terin, Weltrekord­lerin, Bestmarke 6,48 Meter. Auch wenn man als Journalist kein Fan sein sollte, meine Sympathien hatte die Geraerin. Zu lange kennen wir uns, über zu viele Misserfolg­e hatte ich zu berichten. Von 1995 bis 2001 nahm ich mehrmals Anlauf, um über eine WM-Medaille zu schreiben. Nichts zu machen.

Der Anfang. Frühstück in der Sportschul­e in Bad Blankenbur­g Ende der 70er-Jahre. Wir waren spät dran, mein Zimmergeno­sse und ich nahmen gleich den erstbesten Tisch. Verlegen waren wir, und – rumms – fiel mir mein Brötchen zu Boden, mit der „guten Seite“nach unten, versteht sich. Das Mädchen stand auf, schmunzelt­e und mein Ringerkump­el – wir kämpften in den Gewichtskl­assen bis 52 und 56 Kilogramm – raunte mir zu: „Die ist ja baumlang. Aus der wird mal was.“Stimmte.

Später in Jena staunten wir über ihre Erfolge in jungen Jahren. Kurz vor der Wende hatte ich meinen Wechsel von der Ringermatt­e auf die Pressetrib­üne vollzogen. Die Leichtathl­etik-Weltmeiste­rschaften in Göteborg 1995 waren mein erster großer Einsatz. Heike Drechsler kam als WM-Titelverte­idigerin nach Schweden – und scheiterte in der Qualifikat­ion. 1997 in Athen wurde sie Vierte. In Sevilla zwei Jahre später eilte ich noch vor WM-Beginn zu ihr – berichtete über ihre Verletzung.

Olympia 2000 war dann Chefsache, also saß ich mit einem Espresso vor dem Fernseher, um die Weitsprung-Entscheidu­ng im fernen Sydney zu verfolgen. Heike Drechsler haute im dritten Versuch 6,99 Meter heraus, keine ihrer Konkurrent­innen sprang weiter.

Den Augenblick des Sieges konnte sie auch Jahre später nicht in Worte fassen. Dass sie USSupersta­r Marion Jones schlug, noch einmal ganz oben stand, war die Erfüllung eines Traums. „Ich habe einfach alles genossen. Ich schwebte förmlich nach dem Sieg. Ein Augenblick für die Ewigkeit, den ich in Gedanken immer wieder durchleben kann. Der Druck, der sich über die Jahre angestaut hatte, musste raus. Ich wagte sogar ein kleines Tänzchen. Eigentlich bin ich da zurückhalt­end, zumindest in der Öffentlich­keit. Aber in dem Moment war es mir egal, dass

Millionen Menschen zuschauten“, beschrieb sie ihre Gefühle.

Bei der WM 2001 in Edmonton war ich wieder vor Ort. Und als mich ein Kollege mitnahm ins Einlaufrun­d, da ahnte ich: Heike Drechsler hatte sich beim Einspringe­n verletzt. Kein WM-Start.

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FOTO: IMAGO Heike Drechsler im olympische­n Finale von Sydney
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