Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
„Die Zahlen explodieren“
Marion Walsmann setzt sich für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellen Übergriffen ein
Ein 17-Jähriger vergeht sich heimlich an seinem siebenjährigen Neffen. Das, was der Onkel dem Kind mitten in Deutschland antut, überträgt er live im Internet. Es gibt Leute, die bei der schweren Straftat dabei sei wollen. Der Fall wäre nicht bekannt geworden, wenn es nicht die NCMEC gebe. Die Abkürzung der US-amerikanischen Institution steht übersetzt für „Nationales Zentrum für vermisste und ausgebeutete Kinder“. Weil in diesem Fall die Übermittlung der aus dem Netz gefischten Daten so schnell bei hiesigen Behörden gelandet sind, konnte die IP-Adresse dem Täter zugeordnet werden.
EU braucht ein eigenes Zentrum für digitale Ermittlungen
Die Ermittlungen – das weiß die EUAbgeordnete Marion Walsmann (CDU) vom Bundeskriminalamt (BKA) – führten zum Aufklärungserfolg. Doch das ist nicht der Normalfall bei solchen Taten, sondern die Ausnahme, macht Walsmann deutlich. Erstens sei Europa in solchen Fällen auf Funde etwa von der NCMEC angewiesen. Und oft stehe der Aufklärung die lange Dauer im Wege. Deshalb sei überfällig, was EU-Innenkommissarin Ylva Johansson jetzt in Aussicht stellt: eine
Art NCMEC nach europäischer Machart. Die EU-Kommissarin sprach sich für einen koordinierten Kampf gegen den Missbrauch Minderjähriger aus und betonte „einen großen Bedarf für ein spezielles EUZentrum, um dem sexuellen Missbrauch von Kindern vorzubeugen und zu bekämpfen“. Zudem sollen Internet-Unternehmen verpflichtet werden, „den sexuellen Missbrauch von Kindern zu erkennen, zu melden und zu entfernen“. Es könne nicht mehr damit getan sein, dass die auf freiwilliger Basis geschehe.
Klingt einleuchtend, wird aber nicht einfach. Davon geht Marion Walsmann aus. Sie befasst sich schon lange beim „Weißen Ring“mit Opferschutz. Und ihr ist klar, dass die Täter mit der Unterstützung jener rechnen, für die der Datenschutz an erster Stelle steht. „Ich rechne mit massiven Widerstand“, sagt sie – und begründet dies mit früheren Auseinandersetzungen um versuchte Eingriffe in die Freiheit im Netz. Für Walsmann allerdings endet die Freiheit dort, wo es zu schweren Straftaten kommt.
Das Problem: Wer den Tätern auf die Spur kommen will, braucht den Zugriff auf Daten – und dabei geht es nicht nur um jene, die sich mutmaßlich einer Straftat schuldig machen. Die Debatte um die Vorratsdatenspeicherung werde spätestens dann wieder hochkochen, wenn Johansson ihren Gesetzgebungsvorschlag auf den Tisch lege, ist sich Walsmann sicher. „Für einen effektiven Kampf ist die Speicherung nötig.“Womöglich hätten solche Bedenken schon jetzt die Vorlage verzögert, stellt Walsmann als Vermutung in den Raum.
2021 erst hatte das EU-Parlament die Grundlage dafür gelegt, dass Internetkonzerne ihre Inhalte flächendeckend nach Kinderpornografie durchsuchen können – auch in privaten Nachrichten der Nutzer. Damit wurden Eingriffe in die sonst geschützte elektronische Kommunikation
möglich. Die Verpflichtung, sexuellen Missbrauch von Kindern zu erkennen, zu melden und zu entfernen, werde vor allem die großen Internetunternehmen betreffen, sagte Johansson jüngst. Ihr zufolge sind fünf Unternehmen für 99 Prozent der Meldungen verantwortlich. Allein auf Meta – zu dem etwa Facebook gehört – entfielen demnach 95 Prozent.
Der Kinderschutzbund-Bundesverband hat im vergangenen Jahr mit Blick auf einen Gesetzentwurf zur Änderung des Strafgesetzbuches bei der Strafbarkeit der Verbreitung und des Besitzes von Anleitungen zu sexuellem Missbrauch von Kindern auf das Folgende hingewiesen: „Der Gesetzgeber hat in jüngerer Zeit eine Reihe von Strafverschärfungen, die teils überfällig waren, im Bereich des Sexualstrafrechts vorgenommen, um Kinder besser zu schützen. Allerdings ist zu konstatieren, dass die Strafverfolgungsbehörden schon jetzt mit der Aufklärung der Taten überfordert sind.“Daher seien „personelle und sächliche Mittel bereitzustellen, die sicherstellen, dass sämtliche Taten auch zeitnah verfolgt, angeklagt und abgeurteilt werden können“. Das heißt aus Sicht des Kinderschutzbundes: „Die Ausweitung von Straftatbeständen darf nicht dazu führen,dass Taten nicht rechtzeitig angeklagt werden können, weil die Ermittlungsarbeit nicht mit den vorhandenen Mitteln erbringbar ist.“Darüber hinaus seien „präventive Angebote, die Kinder und Jugendliche davor schützen, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden, zu unterstützen“, so der Verein.
„Nie ist es leichter gewesen, an solches Material zu kommen. Deshalb müssen wir, trotz heftigem Widerstand etwa beim Datenschutz, handeln.“Marion Walsmann, EU-Abgeordnete, zum Missbrauch von Kindern und Jugendlichen
In der Coronazeit ist die Gefahr, Opfer zu werden, weiter gewachsen
Der Fall des 17-Jährigen, der seinen kleinen Neffen missbrauchte, spielt im Jahr 2019. Seit März 2020 und somit coronabedingt ist die Gefahr für Kinder und Jugendliche noch einmal deutlich gewachsen. „Die Zahlen steigen“, sagt Walsmann – und korrigiert sich sogleich: „Die Zahlen explodieren.“Und mit zunehmendem Missbrauch würden mehr Bilder und Filme gemacht. „Nie ist es leichter gewesen, an solches Material zu kommen“, erklärt die Politikerin. Umso wichtiger sei es, jetzt zu handeln. Das sei nicht nur eine Aufgabe auf Europa- und Bundesebene. „Wir müssen hier in Thüringen dieses Thema noch stärker angehen“, sagt sie. Es gelte, die Prävention zu verbessern. Walsmann verweist auf die Europäische Kinderrechtsstrategie. Ein Punkt ist die Gewaltfreiheit, ein anderer die Sicherheit im digitalen Umfeld. Aufspüren, aufklären und dann bestrafen – das müsse der Weg sein.