Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
Was Mobbingopfer durchmachen
Die Grausamkeiten von Mitmenschen werden in Saalfeld in einer Selbsthilfegruppe aufgearbeitet
Luisa* ist 13, als sie nicht mehr weiter weiß. Ihre Mitschüler machen abschätzige Gesten, wenn sie vorbeiläuft, sie bekommt „Bitchblicke“, wird wie zufällig geschubst. Ihre einst beste Freundin, der sie alles anvertraut hat, hat sie vor der ganzen Klasse bloßgestellt, selbst die Lehrerin lacht sie aus. Luisa ritzt sich, was nur ihre Mutter weiß. Sie hasst ihre Klasse, die Schule, das Leben. In ihrem Abschiedsbrief steht etwas davon, dass sie keine Kraft mehr hat, weiterzuleben, dass sie es auch nicht wert ist. Luisa, 13, landet in der Psychiatrie in Stadtroda, wo ihr geholfen wird. Langsam, Schritt für Schritt.
Bei Carolin* fing es in der Grundschule an, eigentlich schon im Kindergarten. Sie habe „Krätze“, sagen die anderen Kinder, die nicht wissen, was Neurodermitis ist. Man dürfe sie nicht anfassen. Niemand will mit Carolin in einer Bank sitzen, wenn im Sportunterricht die Mannschaften gewählt werden, ist sie die Letzte, die übrig ist. Sie hat Angst vor den Hofpausen, vor Ausflügen, der Klassenfahrt. Immer am Sonntag beginnen die Bauchschmerzen, dann kommt das Fieber. Sie fragt sich: Wie falle ich am wenigsten auf? Wo kann ich mich verstecken? Und immer ist da der Gedanke: Ich bin selber schuld. Sie erträgt ihre Rolle ein paar Jahre, dann bricht sie das Gymnasium in Saalfeld ab. An der Berufsschule hat sie plötzlich das beste Zeugnis, neue Freunde, neuen Lebensmut.
Das Prinzip fast immer: Viele gegen einen
Luisa und Carolin sind zwei von rund einem Dutzend Menschen, die sich regelmäßig in der Selbsthilfegruppe Mobbing & Diskriminierung treffen. Zumeist in einem Raum der Kreisvolkshochschule Saalfeld, manchmal auch auf der Kegelbahn oder beim Minigolf. Was sie durchgemacht haben, sind nicht die schlimmsten Schicksale in der Gruppe, aber es ist symptomatisch. „Mobbing hat viele Facetten“, sagt Gruppenleiterin Annette Zemitzsch. Es passiere quasi überall: am Arbeitsplatz, in der Schule, im Verein, in der Familie, unter Nachbarn und Freunden, im Internet sowieso.
Dabei gehe es nicht um „ein bisschen Neckerei“. Mobbing beginne dort, wo sich negative Handlungen von mehreren Leuten „systematisch, wiederkehrend und absichtlich gegen eine Person richten“. Es
gebe immer Opfer und Täter. Für die Opfer sei Mobbing eine psychosoziale Dauerbelastung. „Durch massive Demütigungen, Gewalt und Ausgrenzung wird dem Betroffenen allmählich sein Leben und seine Würde genommen“, beschreibt Annette Zemitzsch, was jeder in der Gruppe auf andere Weise durchlitten hat.
Allen gemeinsam ist die Erfahrung, dass der Austausch, das Reden unter- und miteinander hilft. Vor zehn Jahren wurde die Gruppe gegründet, manche sind schon von Anfang an dabei. Einige haben es geschafft, den Teufelskreis zu durchbrechen, haben heute Familie und Kinder. Anderen Mut zu machen, aufzuklären und anzuklagen, ist ihnen ein wichtiges Anliegen. Deshalb gibt es Flyer, eine dicke Broschüre mit allen Infos zur Selbsthilfegruppe und Motivationskärtchen mit Sprüchen wie „Die Art, wie dich jemand behandelt, sagt aus, was für ein Mensch er ist, und nicht, was für ein Mensch du bist“. Betroffene, die zur Gruppe stoßen, seien am Anfang oft vorsichtig skeptisch, hätten Angst, wieder
Negativität zu spüren zu bekommen, so die Erfahrung. Der Anspruch ist es, jedem die Zeit zu geben, die er braucht, achtsam und verständnisvoll miteinander umzugehen. Ziel sei es, dass sich jeder als wertvoll annimmt und betrachtet, so wie er ist. Ein Patentrezept, um dem Mobbing zu entkommen, gebe es nicht, sagt die Gruppenleiterin. Gerade bei Schülern habe gelegentlich ein Wechsel der Bildungseinrichtung geholfen, bei Berufstätigen der des Arbeitsplatzes, „aber in Zeiten von Handy und Internet kann
die Social-Media-Welle auch schnell nachschwappen“, so Annette Zemitzsch. Es sei wichtig, Eltern, Lehrer und Erzieher für das Thema zu sensibilisieren, das auch ein juristisches sei. Zwar sei Mobbing mit Ausnahme von Cybermobbing in Deutschland kein Straftatbestand, verschiedene Begleithandlungen wie Bedrohung, Verleumdung oder sexuelle Belästigung könnten aber strafbar sein.
Prinzipiell hilfreich sei es, wenn das Selbstwertgefühl der Mobbingopfer gestärkt werde. „Du bist gut so, wie du bist“, das sei es, was Eltern ihren Kindern vermitteln müssten. Auch andere Verwandte können helfen, indem sie den Betroffenen Anerkennung geben. „Kein Kind ist selbst schuld an seiner Situation“, sagt die Gruppenleiterin. Man müsse den Tätern klar machen, welche Folgen ihr Handeln hat: „Mobbing zerstört Seelen und letztlich Leben“.
Dass all das auch ein Kampf gegen Windmühlen ist, wird den Gruppenmitgliedern immer dann bewusst, wenn man mal wieder über zwei versuchte Suizide in einer Woche reden muss. Über eine junge Schülerin aus Gorndorf, die nach der Ankündigung, sich die Pulsadern aufzuschneiden, von Mitschülern mit Whatsapp-Nachrichten befeuert wird, wann sie denn endlich Ernst macht. Oder wenn ein schon betagtes Gruppenmitglied die eigene Todesanzeige in der Zeitung findet. Aufgegeben von Verwandten, die es nicht erwarten können, an das Erbe zu kommen. Mobbing hat viele Gesichter. Hässlich sind sie alle.
(* Name geändert)