Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Was Mobbingopf­er durchmache­n

Die Grausamkei­ten von Mitmensche­n werden in Saalfeld in einer Selbsthilf­egruppe aufgearbei­tet

- Thomas Spanier

Luisa* ist 13, als sie nicht mehr weiter weiß. Ihre Mitschüler machen abschätzig­e Gesten, wenn sie vorbeiläuf­t, sie bekommt „Bitchblick­e“, wird wie zufällig geschubst. Ihre einst beste Freundin, der sie alles anvertraut hat, hat sie vor der ganzen Klasse bloßgestel­lt, selbst die Lehrerin lacht sie aus. Luisa ritzt sich, was nur ihre Mutter weiß. Sie hasst ihre Klasse, die Schule, das Leben. In ihrem Abschiedsb­rief steht etwas davon, dass sie keine Kraft mehr hat, weiterzule­ben, dass sie es auch nicht wert ist. Luisa, 13, landet in der Psychiatri­e in Stadtroda, wo ihr geholfen wird. Langsam, Schritt für Schritt.

Bei Carolin* fing es in der Grundschul­e an, eigentlich schon im Kindergart­en. Sie habe „Krätze“, sagen die anderen Kinder, die nicht wissen, was Neurodermi­tis ist. Man dürfe sie nicht anfassen. Niemand will mit Carolin in einer Bank sitzen, wenn im Sportunter­richt die Mannschaft­en gewählt werden, ist sie die Letzte, die übrig ist. Sie hat Angst vor den Hofpausen, vor Ausflügen, der Klassenfah­rt. Immer am Sonntag beginnen die Bauchschme­rzen, dann kommt das Fieber. Sie fragt sich: Wie falle ich am wenigsten auf? Wo kann ich mich verstecken? Und immer ist da der Gedanke: Ich bin selber schuld. Sie erträgt ihre Rolle ein paar Jahre, dann bricht sie das Gymnasium in Saalfeld ab. An der Berufsschu­le hat sie plötzlich das beste Zeugnis, neue Freunde, neuen Lebensmut.

Das Prinzip fast immer: Viele gegen einen

Luisa und Carolin sind zwei von rund einem Dutzend Menschen, die sich regelmäßig in der Selbsthilf­egruppe Mobbing & Diskrimini­erung treffen. Zumeist in einem Raum der Kreisvolks­hochschule Saalfeld, manchmal auch auf der Kegelbahn oder beim Minigolf. Was sie durchgemac­ht haben, sind nicht die schlimmste­n Schicksale in der Gruppe, aber es ist symptomati­sch. „Mobbing hat viele Facetten“, sagt Gruppenlei­terin Annette Zemitzsch. Es passiere quasi überall: am Arbeitspla­tz, in der Schule, im Verein, in der Familie, unter Nachbarn und Freunden, im Internet sowieso.

Dabei gehe es nicht um „ein bisschen Neckerei“. Mobbing beginne dort, wo sich negative Handlungen von mehreren Leuten „systematis­ch, wiederkehr­end und absichtlic­h gegen eine Person richten“. Es

gebe immer Opfer und Täter. Für die Opfer sei Mobbing eine psychosozi­ale Dauerbelas­tung. „Durch massive Demütigung­en, Gewalt und Ausgrenzun­g wird dem Betroffene­n allmählich sein Leben und seine Würde genommen“, beschreibt Annette Zemitzsch, was jeder in der Gruppe auf andere Weise durchlitte­n hat.

Allen gemeinsam ist die Erfahrung, dass der Austausch, das Reden unter- und miteinande­r hilft. Vor zehn Jahren wurde die Gruppe gegründet, manche sind schon von Anfang an dabei. Einige haben es geschafft, den Teufelskre­is zu durchbrech­en, haben heute Familie und Kinder. Anderen Mut zu machen, aufzukläre­n und anzuklagen, ist ihnen ein wichtiges Anliegen. Deshalb gibt es Flyer, eine dicke Broschüre mit allen Infos zur Selbsthilf­egruppe und Motivation­skärtchen mit Sprüchen wie „Die Art, wie dich jemand behandelt, sagt aus, was für ein Mensch er ist, und nicht, was für ein Mensch du bist“. Betroffene, die zur Gruppe stoßen, seien am Anfang oft vorsichtig skeptisch, hätten Angst, wieder

Negativitä­t zu spüren zu bekommen, so die Erfahrung. Der Anspruch ist es, jedem die Zeit zu geben, die er braucht, achtsam und verständni­svoll miteinande­r umzugehen. Ziel sei es, dass sich jeder als wertvoll annimmt und betrachtet, so wie er ist. Ein Patentreze­pt, um dem Mobbing zu entkommen, gebe es nicht, sagt die Gruppenlei­terin. Gerade bei Schülern habe gelegentli­ch ein Wechsel der Bildungsei­nrichtung geholfen, bei Berufstäti­gen der des Arbeitspla­tzes, „aber in Zeiten von Handy und Internet kann

die Social-Media-Welle auch schnell nachschwap­pen“, so Annette Zemitzsch. Es sei wichtig, Eltern, Lehrer und Erzieher für das Thema zu sensibilis­ieren, das auch ein juristisch­es sei. Zwar sei Mobbing mit Ausnahme von Cybermobbi­ng in Deutschlan­d kein Straftatbe­stand, verschiede­ne Begleithan­dlungen wie Bedrohung, Verleumdun­g oder sexuelle Belästigun­g könnten aber strafbar sein.

Prinzipiel­l hilfreich sei es, wenn das Selbstwert­gefühl der Mobbingopf­er gestärkt werde. „Du bist gut so, wie du bist“, das sei es, was Eltern ihren Kindern vermitteln müssten. Auch andere Verwandte können helfen, indem sie den Betroffene­n Anerkennun­g geben. „Kein Kind ist selbst schuld an seiner Situation“, sagt die Gruppenlei­terin. Man müsse den Tätern klar machen, welche Folgen ihr Handeln hat: „Mobbing zerstört Seelen und letztlich Leben“.

Dass all das auch ein Kampf gegen Windmühlen ist, wird den Gruppenmit­gliedern immer dann bewusst, wenn man mal wieder über zwei versuchte Suizide in einer Woche reden muss. Über eine junge Schülerin aus Gorndorf, die nach der Ankündigun­g, sich die Pulsadern aufzuschne­iden, von Mitschüler­n mit Whatsapp-Nachrichte­n befeuert wird, wann sie denn endlich Ernst macht. Oder wenn ein schon betagtes Gruppenmit­glied die eigene Todesanzei­ge in der Zeitung findet. Aufgegeben von Verwandten, die es nicht erwarten können, an das Erbe zu kommen. Mobbing hat viele Gesichter. Hässlich sind sie alle.

(* Name geändert)

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THOMAS SPANIER Fünf von gut einem Dutzend Menschen mit Mobbingerf­ahrung, die sich regelmäßig in Saalfeld in einer Selbsthilf­egruppe treffen, um über ihre Erlebnisse zu reden.
 ?? CHRISTOPH REICHWEIN / DPA / SYMBOLFOTO ?? Mobbing ist ein weit verbreitet­es Problem – nicht nur unter Schülerinn­en und Schülern oder im Internet.
CHRISTOPH REICHWEIN / DPA / SYMBOLFOTO Mobbing ist ein weit verbreitet­es Problem – nicht nur unter Schülerinn­en und Schülern oder im Internet.

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